die Deutsche Literatur
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Walter Höllerer als Dichter
MITSUO IIYOSHI
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1975 Volume 54 Pages 64-70

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Abstract

In seinem Essay “Wie entsteht ein Gedicht” hat Walter Höllerer offensichtlich einen Punkt erreicht, wie er sonst nur im Gedicht vorkommt. Dies geschah, als er gegen Schluß des Vortrages eine ganz bescheidene Bemerkung machte.
Im Grund habe ich alle Gedichte aus Anlaß von Ungelegenheiten geschrieben.
An einem Beispiel-Gedicht erklärt er eine solche “Ungelegenheit”; 1943 beobachtete er von einem LKW aus die Erschießung von ungefähr 20 griechischen Geiseln und mußte trotzdem vorüberfahren. Das Gefühl der Hilflosigkeit führt zum Zweifel und zur Verstörung. Alles verändert sich. Überall sieht er Veränderung.
Diese Erfahrung wird in dem Gedicht berichtet, das mit der Strophe anfängt: Ich sah ich hörte Reih'n, gebückt, Gesichter, Und Pfiffe, Rufe-laß vorübergehn, Und flog vorbei.
Im Vortrag wird aber auch berichtet, daß es sehr lange dauerte, bis das Gedicht zustande kam. Um die grausame Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen, muß er so nah wie möglich bei der Wahrheit bleiben und die Zeit abwarten.
Zwischen der “Ungelegenheit” in der vergangenen Wirklichkeit und der Gelegenheit zum Dichten liegt für ihn ein enormer Zeitraum, wo er Strophen mehr als 20mal umschreiben und letzten Endes aufgeben muß, um das wahre Gedicht zu schreiben.
Walter Höllerer, dem Namen nach Teufel in der Hölle, scheint aber doch ein großer Erlkönig zu sein, da er doch die Gelegenheit sowie die Ungelegenheit beim Schwanz packt. Eine Gelegenheit wie die Meldung von Gagarins-um-die-Erde-Herumrasen gibt ihm den Anlaß, das Gedicht nach 18 Jahren zu Ende zu führen.
Interessant ist es zugleich, wie er Sinn dafür hat, solche “Ungelegenheiten” auch in der Nachkriegszeit überall zu spüren. In diezem Sinne ist er auch “le maudit”, oder der “poete maudit”. Nicht nur auf dem Schlachtfelde, sondern auch in der friedlichen Alltagswelt nach dem Kriege findet er überall derartige Schimären. Wenn er von “Grauen/Und Idyllenbilder wechseln ab in Germany” spricht, ist dies Germany ohne Zweifel ein Land mit zugespitzter Rationalität. In seinem 3. Gedichtband “Systeme” kreischen die Maschinen der technokratischen Systeme, und wie im bewußtlosen Gedränge weiß man nicht, ob darunter auch ein wirkliches Kreischen, d. h. ein menschlicher Schrei, zu hören ist.
Man könnte die Gedichte W. Höllerers als trocken und stockend abtun. Sachlich und lakonisch, sind sie aber eine strikte Poesie, die in dem Maße wahrheitsgetreu sein will, wie sie sich mit der Wirklichkeit messen kann. Der Stoff seiner Gedichte, nämlich die Sprache, ist so haltbar wie gegenständliches (wirkliches) Material, daß man von poetischem Materialismus sprechen könnte. In dieser Hinsicht könnte man ihn als Nachfolger Büchners in unserer Zeit bezeichnen, der die Hilflosigkeit und Ratlosigkeit, kurzum die Einsamkeit eines jeden bis zur tiefsten Konzequenz herausstellen und sie somit irgendwie überwinden will.

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