die Deutsche Literatur
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Die Entstehung des KHM 65 Allerleirauh
Eine progressive Annäherung an den Cinderella-Stoff
KAYOKO IKEDA
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1991 Volume 86 Pages 114-125

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Abstract

Dieser Aufsatz unternimmt einen Vergleich der verschiedenen Fassungen von KHM65 Allerleiraub mit der Absicht, einige Aspekte des Märchenauffassung der Brüder Grimm aufzuzeigen. Im Vordergrund der Untersuchung stehen die Texte der 1. Auflage (1812) und der 7. und letzten (1857). Die anderen Druckfassungen werden nur dann berücksichtigt, wenn Unterschiede zwischen der 1. und 7. Version vorliegen. Aus dem Textvergleich wird ersichtlich, daß die 2. Druckfassung die bedeutendste Änderung mit diesem Märchen aufweist, was übrigens auch durch die Vorrede zu dieser Auflage bezeugt wird.
Nicht nur der Wortlaut des Allerleirauh-Märchens, sondern auch der Sinn des Textes wird über die verschiedenen Fassungen einen Wandel unterzogen. Veränderungen in Wortlaut können hier nur sehr summarisch angegeben werden: komplizierte Satzstrukturen, sich wiederholende Wortmuster und Dialoge in direkter Rede findet man viel häufiger in den späteren als in den früheren Fassungen vor. Die Entwicklung geht eindeutig in Richtung einer zunehmenden Literarisierung, wobei die traditionelle "Grammatik des Märchens“ immer weniger beachtet wird. Dabei wird gelegentlich die Schlichtheit oder auch die Konkretheit der 1. Version modifiziert, um den Text dem Zeitgeschmack anzugleichen.
Änderungen in der Bedeutung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Erstens: in die 2. Version werden die Themen des Königtums und Christentums eingeführt, die in der 1. Fassung keine Rolle spielten.
Zweitens: die Bezeichnung "Bräutigam“ wurde in der 2. Druckfassung getilgt, weil Jakob Grimm die Ansicht vertrat, es sei unnatürlich und unlogisch, einen Vater seine eigene Tochter beheiraten zu lassen, zumal es kein anderes Märchen gebe, das eine inzestuöse Beziehung zwischen einem Vater und seiner Tochter in einem positiven Licht zeige.
Drittens: in der 2. und allen späteren Auflagen wird der Koch nahezu zum Bösewicht, wogegen er in der 1. die Titelfigur auch freundlich behandelt. Im Gegensatz dazu wird die Grausamkeit des Königs in der 1. Druckfassung in allen späteren ausgesperrt, damit er als makellose Heldenfigur auftreten kann.
Viertens: Da der König von der 2. Druckfassung an kein "Bräutigam“ und die Titelfigur keine "Braut“ mehr ist, verändert sich die Bedeutung des Enttarnungsmoments grundlegend. In der 1. Version waren die Beiden schon von vornherein als Ehepaar zu betrachten, weil der nur in diesem Text erwähnte Akt des Stiefelausziehens eine in Märchen vorkommende Metapher für den Geschlechtsverkehr ist.
In der 1. Fassung kommt alles danauf an, daß der König zur Einsicht kommt, daß er die Frau, die er wirklich liebt, doch mißhandelt und mißachtet hat. Von der 2. Auflage an spielt dagegen die Fremdheit dieser schönen Königstochter eine maßgebliche Rolle. Eine Geschichte, die ihre Pointe darin hatte, daß ein Ehemann zum Bewußtsein des von ihm verübten Unrechts gelangt, wird also zum Märchen vom Glückswechsel eines schönen, schweigsamen und gehorsamen Mädchens mittels einer reichen Heirat. Hierin besteht eine deutliche Annäherung an den Cinderella-Stoff.
In den Märchen aus verschiedenen Ländern, die zum Cinderella-cycle gehören, waren die weiblichen Hauptgestalten durch eine natürliche Fröhlichkeit und einen schärferen Witz gekennzeichnet. Erst die Bearbeitungen des Stoffes durch Perrault und die Brüder Grimm konnten die Thematik des Gehorsams hervorheben, was wohl den Vorzügen und Wertsetzungen einer von Männern beherrschten Gesellschaft entspricht. Dies sollte man wiederum den Grimms nicht als bewußte Absicht unterstellen,

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