die Deutsche Literatur
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Das Neidhartgrabmal
SUMIE KOTAKE
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1991 Volume 86 Pages 24-34

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Abstract

An der südlichen Außenseite des Wiener Stephansdoms findet man noch heute ein Grabmal, das zu Ehren des Ritters Neidhart errichtet worden ist. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts schloß ein Wiener Schreiber namens Lorenz seine Abschrift des Lucianus-Glossars mit der merkwürdigen Datierung: "Explicit Lucianus per Laurencium scriptorem Wienne scriptus. Anno a translacione Neidhardi in ecclesiam Sancti Stephani Wienne primo.“ Der Schreiber spricht also von einer Wiederbeisetzung d.h. von einer Überführung der sterblichen Überreste einer Person, die die Wiener damals für Neidhart gehalten haben, von irgend einem Ort in das Grabmal am Stephansdom. Daß Lorenz dieses Ereignis zur Datierung des Glossars verwenden konnte, läßt darauf schließen, daß diese Wiederbeisetzung ein recht bekannter und in Wien Aufsehen erregender Vorfall gewesen sein muß. Als das Grab bei Restaurierungsarbeiten im Jahr 1874 geöffnet wurde, fand man in dem Sarkophag nur einen Schädel und einige Knochenüberreste. Das scheint davon zu zeugen, daß hier kein reguläres Begräbnis, sondern tatsächlich eine Wiederbeisetzung, wie Lorenz berichtete, stattfand. Heute werden wir leider nicht mehr feststellen können, wessen sterbliche Überreste durch das Zeremoniell der Überführung und das herrliche Grabmal verehrt worden sind. Sind sie die des Minnesängers Neidhart von Reuental, der zuerst in Bayern am Hofe Herzog Ludwigs I. gedichtet, später in Friedrich dem Streitbaren von Österreich einen neuen Gönner gefunden und etwa zwischen 1180 und 1240 gelebt haben dürfte?
Nach den zahlreichen historischen Quellen aus dem 15. und 16. Jahrhundert ist damals allgemein angenommen worden, daß der in diesem Grab zur letzten Ruhe Gebettete ein Hofnarr namens Neidhart (Fuchs) im Gefolge Herzog Ottos des Fröhlichen (1301-39) gewesen war. Hat es diesen zweiten Neidhart tatsächlich gegeben? Manche Materialien seit der Mitte des 15. Jahrhunderts teilen die Lebensumstände dieses Hofnarren mit, gleich wie die fiktive Vita des legendären Helden, der in verschiedenen Neidhartschwänken als Bauernfeind erscheint und immer wieder mit den Bauern viele Abenteuer erlebt. Das erweist ihn als ganz fiktive, oder wenigstens halb sagenhafte Person, die aus Vermischung von Wirklichkeit und Unwirklichkeit entstand. Auch ein beschädigtes Relief an der Fußseite des Unterbaus vom Grabmal scheint zu bezeugen, daß der Begrabene mit dem Schwankhelden in enger Beziehung steht. E. Jösts Meinung nach handelt es sich hier um eine Szene aus dem "Bilderschwank“, wo ein Bauer angesichts des Fürsten Anklage gegen Neidhart wegen seiner Untaten erhebt. Ist die Relieffigur des Fürsten als Herzog Otto dargestellt, wenn man in diesem Neidhart die Identität des Hofnarren gesehen hat? Auf den fiktiven Fürsten in den frühen Schwänken ist die Rolle des Gönners übertragen worden, die bei Minnesänger Neidhart Herzog Friedrich zukam. Zwar ist die Residenz des Fürsten in der Regel in Wien, aber sein Name ist unbekannt, weder Friedrich noch Otto. Der Name Otto erscheint zuerst und nur einmal im "Pilz-Salbenschwank“, der allein in der sogenannten Sterzinger Miszellaneen-Handschrift (Anfang des 15. Jahrhunderts) erhalten ist. In den frühen Schwänken können wir kein anderes Zeugnis für die Identifizierung des Fürsten mit Herzog Otto finden.
Dennoch sind die Neidhartschwänke schon im Zeitalter Ottos in Wien so sehr im Umlauf gewesen und haben eine so breite Popularität erfahren, daß man leicht den Fürsten mit Otto selbst und zugleich auch den Schwankhelden mit irgend einem Neidhartsänger des Wiener Hofs vermengt haben könnte.

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