2021 年 163 巻 p. 68-84
In der österreichischen Nachkriegsliteratur gab es die Tendenz, das „Österreichische“ als eine der literarischen Tradition vor 1938 immanente geistige Eigenschaft hervorzuheben, es zu mythisieren und zu rekonstruieren. Dies wurde nicht allein von der älteren Generation angestrebt, sondern auch von der jüngeren erneut in den 1960er-Jahren aufgegriffen. Die Gesellschaftskritik in Ilse Aichingers zuerst 1946 in der Zeitschrift PLAN veröffentlichtem Prosatext Aufruf zum Misstrauen, der 1967 in die Anthologie Aufforderung zum Misstrauen aufgenommen wurde, blieb in diesem Sammelband weitgehend unberücksichtigt und wurde zu einem Phänomen der typisch österreichischen Selbstironie umgedeutet. Der theoretische Ansatz solcher Uminterpretation findet sich auch in Herbert Eisenreichs Aufsatz Das schöpferische Mißtrauen oder Ist Österreichs Literatur eine österreichische Literatur? (1961), in dem der Autor Aichingers „Misstrauen“ als Skepsis gegen „Wirklichkeit“ und „Sein“ auffasst und dadurch das Wesen der österreichischen Literatur zu definieren versucht, um die konservative Strömung der Nachkriegsliteratur zu rechtfertigen. Eisenreichs Bemühung um das „Österreichische“ wurde wiederum von Heimito von Doderers Metaphorik des Drachen im Roman Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre (1951) und im Essay Wiederkehr der Drachen (1958) beeinflusst. Doderers Figur der gigantischen Schlange, die außerhalb der normalen Naturgeschichte noch überlebt, wird hier mit dem „Österreichischen“ gleichgesetzt und verweist dadurch auf die Ausklammerung des verhängnisvollen Verlaufs der österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert und auf die symbolhafte Wiederherstellung der Aura des alten Wiens.