Neue Beiträge zur Germanistik
Online ISSN : 2433-1511
Volume 158
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Sonderthema: Literatur der Migration - Literatur über nationale Grenzen hinaus
  • Keiko HAMAZAKI
    2018 Volume 158 Pages 1-7
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
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  • Was ist neu an Marion Poschmanns Die Kieferninseln?
    Miyuki SOEJIMA
    2018 Volume 158 Pages 8-24
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
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      Seit der Zeit des Japonismus im 19. Jahrhundert sind in den Medien bestimmte Topoi oder Figuren wie „Samurai“, „Geischa“ oder „Zen“ verwendet worden, um den Gegenstand „Japan“ erkennbar zu machen. Auch seit den 1970er Jahren, in denen Japan nicht mehr ein fernes, exotisches Land war, sind immer noch dieselben Motive im Japandiskurs aufgetaucht. Der Japanologe Reinold Ophüls-Kashima konstatiert es und nennt das Ensemble solcher auf den deutschsprachigen Raum bezogenen speziell japanischen Kollektivsymbole „Japanismus“, in Abgrenzung zum historischen „Japonismus“. Dieser Japanismus spielte auch in der Literatur über Japan-Erfahrungen keine geringe Rolle, wie Adolf Muschgs Im Sommer des Hasen, Elisabeth Reicharts Das vergessene Lächeln der Amaterasu, Gerhard Roths Der Plan und Christoph Peters Mitsukos Restaurant. Das ist vermutlich einer der Gründe dafür, dass diese Romane mit wirklichen Sachverhalten in Japan wenig zu tun haben. Marion Poschmann verwendet in ihrem Roman Die Kieferninseln (2017) auch Japanismen, nämlich die Haiku-Literatur und einen Selbstmordkandidaten, wobei die Japanismen anders behandelt werden, als bei den bisherigen Japan-Romanen. Dieser Beitrag thematisiert das literarische Verfahren von Die Kieferninseln und sein Charakteristikum als interkulturelle Literatur im globalisierten Zeitalter.
      Es handelt sich um zwei Gestalten, die mit ihrem Leben nicht zufrieden sind. Einer ist ein deutscher Privatdozent, Gilbert Silvester, der vor seiner Frau flüchtet und nach Japan reist, um seine Selbstwiederfindung zu ermöglichen. Sein Gegenüber ist ein japanischer, lebensmüder Student namens Yosa Tamagotchi, der einen Suizid plant. Beide haben ein eigenes „Nachschlagebuch“. Gilbert folgt Bashôs berühmtem Pilgertagebuch Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland (Oku no Hosomichi) und nimmt zum Ziel seiner Reise die Kieferninseln, deren Landschaft eine der drei schönsten Japans sein soll. Yosa braucht den Rat von The Complete Manual of Suicide, einem japanischen Million Seller der 90er Jahre, um einen angemessenen Ort für seinen Suizid wählen zu können. Gilbert und Yosa werden durch einen Zufall zusammengeführt, sie kombinieren ihre Reiserouten und brechen auf zu einer gemeinsamen Reise, so wie Bashô und Sora oder Don Quijote und Sancho Panza.
      Die Figuren wie Geisha und Samurai kommen als Karikatur vor, denn dieses Werk hat Charakteristika einer Lachliteratur im Sinne von M. Bachtin, der in seinem Rabelais und seine Welt die volkstümliche Lachkultur erläutert. Indem Gilbert und Yosa die Stationen ihrer Reise besuchen, werden Abschnitte ihrer zwei Kultbücher parodiert, travestiert und auf den Kopf gestellt. Das sind genau die spielerischen Ausdrucksformen des Lachprinzips, die Bachtin aufzeigt. Es entstehen Lachsituationen. Sogar über die Toten wird sich in Form eines grotesken Realismus mokiert, und über Gilberts große Erwartung der Erleuchtung nach Bashôs Vorbild gewitzelt. Dieses Lachen bringt das Bewusstsein der heiteren Relativität mit sich und infolge dessen wird die engstirnige Seriosität der herrschenden Diskurse beeinträchtigt. Auch Japanische Kultur, wie z.B. Kabuki Theater und Bonsai Gartenkunst, wird karikiert und in Gilberts Kontemplationen mit der westlichen verglichen, verfällt aber nicht in Dualismus oder Dialektik, sondern wird gelassen akzeptiert. Der Ton des Lachens zeigt, dass unterschiedliche Prinzipien auch vereinbar sind.
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  • Sherko Fatahs Kampf gegen biografische Festschreibung in „Ein weißes Land“
    Herrad HESELHAUS
    2018 Volume 158 Pages 25-42
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
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  • Zu Christoph Ransmayrs Der Weg nach Surabaya
    Kyoko TOKUNAGA
    2018 Volume 158 Pages 43-59
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
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      Den österreichischen Gegenwartsautor Christoph Ransmayr bezeichnet man oft als „kosmopolitischen Dörfler“, da er für seine Reisen bekannt ist, die ihn an die Peripherien der Welt, in die hohen Berge, sogar ins hocharktische Packeis, führen. Viele Fotos in verschiedenen Medien zeigen den Autor mit „kolossalischen Kulissen“. Somit ist das Autorimage entstanden, als ob er einsamer Abenteurer wäre, der ausschließlich im „Erhabenen“ vorkommt. Hingegen bestimmt Ransmayr sich selbst als „Touristen“, indem er seine Gesprächsammlung mit „Geständnisse eines Touristen“ betitelt. Den Reisenden, den Abenteurer oder den Touristen, wie man ihn auch nennen mag, kommt man über den Eindruck nicht hinweg, dass er immer unterwegs ist. „Der Autor des Unterwegsseins“ ist aber nicht nur von Medien begehrtes Bild, sondern auch von Ransmayr inszeniertes Selbstbild. Im „Weg nach Surabaya“ präsentiert er sich als reisender Schriftsteller und seine Werke als Literatur in Bewegung.
      „Der Weg nach Surabaya“ ist eine Sammlung von verschiedenen Reportagen, kleinen Essays und Dankreden. In meinem Beitrag wird dieser Sammelband als Atlas betrachtet. In seinen Reportagen geht es um die geographischen und gesellschaftlichen Peripherien in Deutschland und Österreich. Thematisiert werden die verschwindende Welt und die Außenseiter am Rand der Gesellschaft. Von den Peripherien im deutschsprachigen Raum begibt sich der Reisende bis zum „Weg nach Surabaya“.
      Die Titelgeschichte dieses Sammelbandes mit dem Untertitel „Protokoll einer Lastwagenfahrt“ ist Ransmayrs Dankrede anlässlich einer Preisverleihung. Im Folgenden wird diese Rede zunächst als Reisebericht im postkolonialen Kontext ausgelegt. Zwei Lastwagen fahren in Richtung nach Surabaya. Der Reisende befindet sich auf der Ladefläche eines offenen Lastwagens. Die einheimischen Fahrgäste des anderen Lasters bitten ihn mit körperlicher Gestik darum, die Zeitung vorzulesen, die er auf das Kabinendach gelegt hat. Obwohl er nichts vom Inhalt versteht, ist er trotzdem fähig, den Artikel vorzulesen, da die indonesische Sprache mit lateinischen Alphabeten phonetisch geschrieben ist. Diese Kunstsprache bewahrt mit ihren niederländischen Lehnwörtern die Erinnerung an die Kolonialherrschaft. Hier wird nicht nur Multikulturalität und Vielsprachigkeit thematisiert, sondern auch die Gewalt der kolonialen Herrschaft.
      Beim Abschied klatschen die Passagiere der beiden Lastwagen im Vorbeifahren einander in die Hände. Der europäische Zeitungsvorleser versteht diesen Abschiedsgruß als einen freundlichen Applaus. Im letzten Augenblick übergibt er dem letzten Fahrgast die Zeitung, die die Bedeutung seiner Anwesenheit bei der Fahrt gesichert hat. „Der Weg nach Surabaya“ ist nicht nur ein Reisebericht, in dem der Autor sich als reisender Schriftsteller präsentiert, sondern auch eine performative Dankrede. In der Dankrede wird der Zeitungsvorleser der Preisträger. Die zuhörenden Einheimischen auf dem Weg nach Surabaya werden die Zuhörer der Rede. Indem der kursive Weg nach Surabaya als Zeilen und die Zeitung als Geschichte metaphorisiert wird, ist dieser Text als literarische Parabel zu verstehen. Die Geschichte soll wie die Zeitung weiter an den Rezipienten übergeben werden. Es ist nicht nur der reisende Autor, der immer unterwegs ist, sondern auch sein literarisches Werk. Die Lastwagenfahrt auf dem „Weg nach Surabaya“ ist eine Metapher für die Poetologie Ransmayrs.
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  • Bernhard Schlinks Relativierung der NS-Verbrechen
    Mashiro ITO
    2018 Volume 158 Pages 60-76
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
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      Lange diskutierten Kritiker von Bernhard Schlinks Weltbestseller Der Vorleser (1995), inwieweit der Autor in diesem Roman eine revisionistische Vision verfolge: Als Höhepunkt des Romans stellt die Protagonistin Hanna Schmitz, in die sich der Protagonist Michael Berg als Schüler verliebte und die er später im Gerichtssaal als Analphabetin und frühere SS-Aufseherin eines Konzentrationslagers bei Krakau wiedersieht, an den Richter die Frage: „Was hätten Sie denn gemacht?“ Manche Kritiker deuteten den Roman als revisionistisch, da er betone, dass Hanna keine andere Wahl hatte, als in die SS einzutreten, und dass sie nicht Täterin, sondern eher Opfer sei. Auch glaubte man, die Behauptung des Autors aufgedeckt zu haben, dass die Hauptfigur Michael Berg auch Opfer sei, der durch seine Liebe zu Hanna in die Vergangenheitsschuld verstrickt wurde. Dagegen wurde vor der einfachen Identifizierung der Meinung des Autors mit der des Protagonisten gewarnt. Jedenfalls sind viele Fragen im Roman offen geblieben. Zur weiteren Verdeutlichung der Einstellung des Autors, der auch Jurist und Professor für Öffentliches Recht ist, geht es darum, nicht nur seine belletristischen Werke, sondern auch seine juristischen Aufsätze und Essays zu lesen.
      In seinem Buch Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht (2002) kritisiert Schlink wiederholt die Radbruchsche Formel, nach der das Recht im Dritten Reich, das die Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt und die Gleichheit, den Kern der Gerechtigkeit, verleugnet habe, überhaupt der Rechtsnatur entbehre, weil sie den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht habe, die Taten im Dritten Reich rückwirkend zu verurteilen. Auch erhebt er einen Einwand gegen die nach einer heftigen Diskussion 1979 beschlossene Aufhebung der Verjährungsfrist bei Mord in der Bundesrepublik Deutschland. „Nulla poena, nullum crimen sine lege“ sei das rechtsstaatliche Proprium des Strafrechts, wenn auch bei NS-Verbrechen 6,000,000 Menschen umgebracht worden sind. Damit wird seine juristische Überzeugung deutlich, dass keine Taten im Dritten Reich nachträglich verurteilt werden sollten, ganz zu schweigen von den Taten Hannas, die nur Befehlen gefolgt habe.
      In diesem Buch geht er sogar so weit, zu behaupten, dass die Opfer, die Juden, für die NS-Verbrechen selbst verantwortlich wären, da sie, nach Schlink, Widerstand und Widerspruch nicht geleistet hätten. Das ist aber falsch, da es in der NS-Zeit tatsächlich viele Fälle jüdischen Widerstandes gab, und Schlinks Äußerung übersieht, dass sich die Juden damals in einer völlig hilflosen Situation befanden. Zwar sind Beispiele der jüdischen Beihilfe zu Verbrechen bekannt, aber Schlink verallgemeinert dies.
      Dagegen sind für Schlink die Deutschen seiner Generation Opfer, da sie wegen der Beziehung zur Elterngeneration unter Identitätsproblem gelitten hätten. Wer sind dafür die Schuldigen? Für Schlink sind es Kritiker der NS-Verbrechen einschließlich Juden, die, wie in der Erzählung „Die Beschneidung“ (2000), die Vergangenheitsschuld der Deutschen erwähnen und die Deutschen attackieren. Thematisierung der Vergangenheitsschuld ist für Schlink schon eine Belästigung.
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  • Interkulturalität und Judentum in Kafkas Blumfeld-Fragment.
    Shinji HAYASHIZAKI
    2018 Volume 158 Pages 77-89
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
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      Als Deutschland und Österreich-Ungarn im August 1914 in den Krieg gegen Russland gingen, stand Frankreich aufgrund der sogenannten Französisch-Russischen Allianz auf Russlands Seite. In einem gegen Februar 1915 entstandenen Textfragment von Franz Kafka, das in der frühen Ausgabe unter dem von dem Herausgeber Max Brod gegebenen Titel „Blumfeld, ein älterer Junggeselle“ veröffentlicht wurde, befindet sich eine bemerkenswerte Textstelle, Variante in der kritischen Ausgabe, an der die Allianz zwischen zwei gegen Kafkas Vaterland (Österreich) feindlichen Ländern willkommen wäre. C. Duttlinger (2007) interpretiert, dass der angeblich unpolitische Kafka an der Textstelle ausnahmsweise ein politisches Interesse an den weltgeschichtlichen Ergebnissen zeige. Im vorliegenden Aufsatz soll dagegen bewiesen werden, dass die Textstelle als eine Projektion seines persönlichen Wunsches nach einer Versöhnung der Ost- und Westjuden in Prag verstanden werden kann.
      An einem Abend begegnet ein älterer einsamer Junggeselle namens Blumfeld unerwartet zu Hause zwei kleinen unruhigen Zelluloidbällen. Um von den weißen blaugestreiften Bällen, die sich anders bewegen und Blumfeld wie seine Schatten folgen, seine Aufmerksamkeit abzulenken, schlägt er eine französische Zeitschrift auf. Ein Foto, in dem sich der russische Kaiser und der französische Präsident einander die Hände drücken, fasziniert ihn sehr. Die Szene, die die Französisch-Russische Allianz symbolisiert, findet er „wahrheitsgetreu“.
      Zufolge I. Bruce (2007) sind die weiß- und blaugestreiften Bälle Allegorien des Zionismus oder Judentums. Denn Weiß und Blau sind die jüdischen Symbolfarben seit dem ersten Zionistischen Kongress von 1897. Die jüdische Farbenkombination kannte auch Kafka, der 1913 an dem zionistischen Kongress in Wien teilnahm und dort auch viele weiße und blaugestreifte Fahnen mit blauem Stern gesehen haben muss. Jedoch kann Bruce die Frage nicht gut beantworten, warum die jüdischen Bälle zwei sind und sich anders bewegen, und auch warum Blumfeld die Szene der Französisch-Russischen Allianz „wahrheitsgetreu“ findet.
      Es sollte zuerst aufgezeigt werden, dass die zwei Bälle bei Kafka gedanklich mit den zwei Staatsoberhäuptern, d.h. dem französischen und russischen, verbunden sind. Wie H. Nakazawa (2011) zeigt, stellt Kafka eine Staatsoberhauptsfigur, den chinesischen Kaiser in seinem Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer, als eine Allegorie des Jüdischen dar. Auch ein amerikanischer Präsident in seinem Romanfragment Der Verschollene und zwei Kommandanten, einigermaßen Ersatzfiguren für Staatsoberhäupter, in seiner Erzählung In der Strafkolonie sind als Allegorien des Jüdischen lesbar. Bei Kafka sind Allegorien des Jüdischen den Bällen und den Staatsoberhäuptern gemeinsam. Außerdem assoziiert Kafka zufolge E. T. Beck (1971) oft Russland mit Ostjüdischem. Daraus lässt es sich erschließen, dass das Paar Bälle ein Paar von Ost-und Westjuden(tum) allegorisiert.
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  • Schweben zwischen Emigrant und Immigrant
    Takashi KAWASHIMA
    2018 Volume 158 Pages 90-103
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
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      In ihrem Essay Questions of travel: Postmodern discourses of displacement (1996) kritisierte Caren Kaplan die Polarisierung von „tourism“ und „exile“ in der Forschung, in der ein einsamer, entfremdeter Emigrant zur idealen Künstlerfigur der literarischen Moderne stilisiert wird, während die Reisen der Touristen in der modernen Gesellschaft als bloß banale, kapitalistische Vergnügungen abgewertet werden. Kaplans Kritik gilt auch der postmodernen Theorie der „déterritorialisation“, die Gilles Deleuze und Felix Guattari vor allem in Kafka: Pour une littérature mineure (1975) entwickelten, indem sie die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen realer Nomaden außer Acht lassen. Kaplan zufolge privilegieren die postmodernen Theoretiker die nomadenhafte Existenz im Exil bzw. in der Diaspora so, dass sie schließlich dem idealisierten Bild des Emigranten der modernen Literatur ähnlich wird.
      In der vorliegenden Arbeit möchte ich den Roman Der Verschollene (1912–1914), der bisher in der Forschung oft als typisches Beispiel einer deterritorialisierten Literatur mit einem nomadenhaften Helden gelesen wurde, anders zu lesen. Der Protagonist Karl Roßmann verhält sich danach nicht so sehr wie ein eigentlicher Emigrant, sondern vielmehr wie ein Tourist. Er sieht, was ihm sein Onkel Jakob vorwirft, die Großstädte in Amerika stets aus dem Blickwinkel eines „Vergnügungsreisenden“. Dadurch, dass der Leser mit der Hauptfigur diese Perspektive teilt, entsteht der durchgehend bewegliche und schwebende Eindruck dieses Romans.
      Auch im Vergleich mit dem Reisebericht Amerika — heute und morgen (1912) von Arthur Holitscher, einer der wichtigsten Vorlagen des Romans, tritt der touristenhafte Charakter Karl Roßmanns deutlich zutage. Während Holitscher in seinem Reisebericht die Integration der – vor allem jüdischen – Immigranten aus vielen Ländern in die amerikanische Gesellschaft plastisch darstellt, scheitert der von allem Jüdischen „emanzipiert“ habende Held Kafkas gerade bei diesem Integrationsprozess, weil er nicht imstande ist, die Position eines Touristen aufzugeben und sich wie ein wirklicher Immigrant zu verhalten.
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Aufsätze
  • Nichttun und Sprachkritik bei Ilse Aichinger
    Reika HANE
    2018 Volume 158 Pages 104-118
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
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    Seitdem der Begriff der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft Europas einen moralisch hohen Wert zugeschrieben bekam, finden sich in der Literatur eine Reihe von Müßiggängern und Nichtstuern, die dieser Tendenz widerstreben. Manche Erzähler und Figuren in den Texten von Ilse Aichinger (1921–2016) gehören ebenfalls dazu. Dieser Beitrag analysiert das Nichttun bei Aichinger, das als Thema oder Motiv, aber auch in der sprachlichen Gestaltung des Textes auszumachen ist, und untersucht, wie das Nichttun mit Aichingers Sprach- und Machtkritik zusammenhängt.
      Im Hörspiel Gare maritime (ES 1974, ED 1976) treten Figuren auf, die sich darin üben, nicht mehr zu atmen. Dieses Nichttun assoziiert die Hungerkunst, erinnert aber auch an das Sterben in der Gaskammer. Aichingers Hörspiel schreibt den Zustand, der im KZ als tödliche Gewalt erlitten wurde, in eine aktive Unterlassung um, die als Widerstand wirksam wird gegen die Macht, der die Figuren unterworfen sind: Joan, die wie ein Zwischenwesen zwischen Mensch und Puppe wirkt, soll einer Begutachtung ihres „Wert[es] für die Nation“ unterzogen werden; doch infolge des Nichtatmens kann dieser Wert nicht festgestellt werden. Das Verweigern der Atmung ermöglicht es Joan, deren Handlungsmöglichkeiten äußerst eingeschränkt sind — sie kann sich nicht einmal eigenständig bewegen — , dennoch zum Handlungssubjekt zu werden, führt aber auch dazu, dass sie schließlich zusammen mit Joe, der das Nichtatmen mitvollzieht, aus dem Museum entsorgt wird. Der Widerstand der Nichttuenden in Gare maritime ist insofern ambivalent, als er gerade in seinem Erfolg ihren Zerfall und ihre Beseitigung verursacht, ohne an der bestehenden Ordnung merklich etwas zu verändern. Allerdings würdigt der Text auch den Moment, in dem das Verhalten diese Ordnung stört.
      Als Fremdkörper in der etablierten Ordnung gleichen Joan und Joe den Flecken in der Kurzgeschichte Flecken (1975), die, wie der Erzähler meint, die Hierarchie der Dinge zum Schwanken bringen. Sowohl Gare maritime als auch Flecken problematisieren die bezeichnende und beschreibende Funktion der Sprache: Während es von den Flecken heißt, sie seien „[i]n Worten nicht bildbar“, ist mit dem Namen Joan ein Wesen genannt, dessen Identität sich nicht ausmachen lässt — es wird als „Puppe“ bezeichnet, atmet aber und spricht; es trägt ein Seidenkleid, das allerdings „kracht“; sein zerfallender Körper klingt nach „Knochen oder Hölzern“. In Gare maritime unterbricht auf diese Weise die Beschreibung von Joan und Joe den Prozess der Vorstellung, die sie stimuliert — ein Beispiel dafür, dass der Text Aichingers etwas, das Beschreibung normalerweise leistet, immer wieder zunichte macht.
      Während der Erzähler von Flecken in Selbstwiderspruch gerät, indem er etwas, was „[i]n Worten nicht bildbar“ sei, dennoch als Flecken bezeichnet, kritisiert der Erzähler der Kurzgeschichte Schlechte Wörter (1976) „schlechte Wörter“, indem er selber „schlechte Wörter“ benutzt. So wird in beiden Texten die Autorität des Erzählers bzw. der Erzählung untergraben — diese Negation des Gesagten ist ein weiteres Beispiel für ein Nichttun des Textes. Der Erzähler von Schlechte Wörter ist wiederum ein Nichttuender: Er problematisiert zwar unzutreffende Bezeichnungen, unterlässt jedoch Verbesserungsversuche und belässt es beim Zuschauen und Mitmachen. Diese Haltung hat ihren Grund in der Weigerung, (einer Sprache) mächtig zu sein.
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  • In Goethes Schauspiel Iphigenie auf Tauris
    Masashi KAJIWARA
    2018 Volume 158 Pages 119-134
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
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    Das Thema dieses Aufsatzes ist Goethes Schauspiel Iphigenie auf Tauris (Veröffentlichung 1787). Es werden allerdings nicht die bereits häufig besprochenen Dichotomien behandelt, wie z.B. Frau/Mann, Griechentum/Barbarei, Sprache/Gewalttat oder Aufklärung/Mythos; stattdessen steht die innere und reflexive Gewalt des Redens im Fokus. Diese fordert nicht nur vom Gegenüber, sich überzeugen zu lassen oder Zugeständnisse zu machen, sondern beraubt auch den Redner selbst seiner Subjektivität und Autonomie, wenn das Überreden zum Selbstzweck wird und der Redner ohne Rücksicht auf seine eigentliche Absicht nach einem Rechtfertigungsgrund sucht. Ziel meiner Ausführung ist es zu verdeutlichen, dass die sprachliche Gewalt und die Befreiung von dieser, die innerhalb des Dramas dargestellt werden, gleichzeitig auch in Goethes dramaturgischer Umsetzung, d.h. in seiner Charaktergestaltung und seinem Handlungsaufbau, stattfinden.
      In Iphigenie auf Tauris reden die Charaktere miteinander, um sich gegenseitig zu überreden und ihren eigenen Willen durchzusetzen. Dadurch entstehen verschiedene Konflikte und aus der Sicht des Lesers schließlich der grundsätzlich tragische Handlungsverlauf. Denn jede Figur glaubt nur an ihren Rechtfertigungsgrund, kann deshalb weder einen Kompromiss eingehen noch relativieren, und versucht, ihre Sicht der Dinge als Wahrheit zu etablieren. Gelegentlich wird eines der vermeintlich absoluten Argumente, im Besonderen von Dianas Priesterin Iphigenie, als der Wille der Götter dargestellt, dem man selbstverständlich Folge leisten müsse. In diesem Kontext verwende ich die Begriffe »Mythisches« und »mythologisch«; »Mythisches« ist die göttliche Gewalt, der die Menschen blind und widerspruchslos gehorchen müssen. Den Willen der Götter, den die Heldin lediglich als rhetorisches Mittel anführt, begreife ich hingegen als »mythologisch«. Letzteres hat nichts mit übermenschlicher Macht zu tun, sondern dient lediglich dem Eigeninteresse der Heldin. Die »Mythologie« ausschließlich als rhetorisches Mittel zu verwenden, stellt also eigentlich eine Zweckentfremdung des »Mythischen« dar und lässt sich als menschlicher Widerstand gegen die göttliche Herrschaft begreifen. Wenn der Redner aber vergisst, dass er den göttlichen Willen nur als Überzeugungsmittel eingesetzt hat, und ihn stattdessen schließlich selbst als gegeben akzeptiert, dann erliegt der Redner erneut der heteronomischen Gewalt der Götter und verliert seine Selbstbestimmung. Die mythische Gewalt kann also selbst in einer mythologischen Rede wieder die Oberhand gewinnen. Die der Rede immanente Gewalt richtet sich nun gegen den Redner. Vor allem Iphigenie verkörpert — jenseits ihres Selbstverständnisses — diese reflexive Gewalt des Redens, und zwar durch ihren Status als Priesterin und ihre Treue zur Göttin. Ihr Bruder Orest hingegen bricht am Ende des Dramas den alle Redner bannenden diskursiven Mechanismus, indem er eine neue Interpretation des Orakels vorschlägt. Seine Rede ist kaum opportunistisch zu begründen, lässt sie doch das Ziel außer Acht, die der Redner eigentlich für das Wichtigste halten sollte, und bricht radikal mit dem Willen zu überzeugen. Das Resultat: Wenn es keinen Überredungsversuch gibt, gibt es auch keinen Widerspruch. Thoas, Orests Gegner, nimmt dessen Vorschlag einfach an. Iphigenie auf Tauris handelt also nicht von der Möglichkeit der Versöhnung durch das Gespräch, sondern vielmehr von der Auflösung der Gewalt und der Tragik, die der betrügerischen Idee sprachlicher Kommunikation immanent sind.
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  • Hiroshi YAMAMOTO
    2018 Volume 158 Pages 135-152
    Published: 2018
    Released on J-STAGE: March 15, 2020
    JOURNAL FREE ACCESS
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