Die deutsche Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts zeigt zwei Linien, die sich geographisch kreuzen. Eine Linie verbindet den Leipziger Literaturprofessor Gottsched mit der klassizistischen Literaturtheorie der Franzosen, die andere Bodmer und Breitinger mit der britischen Literatur. Jede deutsche Literaturgeschichte erwähnt die Kontroverse zwischen Gottsched und den Schweizern. Seltsamerweise aber wird fast nie gefragt, wie oder warum die Schweizer in der englischen Poetik das Muster ihrer literarischen Tätigkeit erblickten.
Der Anlaß dazu liegt wohl in einer geschichtlichen Phase, in der der Protestantismus in England sowie in der Stadt Zürich seine Herrschaft stabilisierte. Jahrzehnte nach der, glorreichen Revolution‘ in England entrissen Zürich und Bern den katholischen Orten im zweiten Villmerger Krieg die Vorherrschaft. Diese religiös-politische Entwicklung führte zu einem kulturellen Kontakt der protestantischen Schweiz mit England.
Thomas Platter ist der erste Schweizer, und zwar sehr wahrscheinlich der erste Europäer vote Kontinent, der als Zeitgenosse die Shakespeareschen Theater besuchte und darüber schrieb. Schon vor Bodmer teilte Beat Ludwig von Muralt seinen Landsleuten von den Dramen Shakespeares in Briefform mit. Unter den Literaturhistorikern ist bekannt, daß Bodmer in seinem 1732 erschienenen Buch zum erstenmal den Dramatiker erwähnte. Aber schon 1724 hatte er ein Blankversdrama
"Mark Anton und Kleopatren Verliebung“ geschrieben. Es handelt sich zweifellos um eine Imitation der Tragödie
"Antony and Cleopatra“. Seit 1740 häuften sich Bodmers Erwähnungen Shakespeares, und somit wurde er der erste wichtige Wortführer des elisabethanischen Dramatikers in Kontinentaleuropa. Den Kern seiner Shakespeare-Bewertung hatte Bodmer gewiß dem englischen Schriftsteller Addison entlehnt. Man merkt doch in Bodmers Position gegen Gottsched ein nationales Moment, insofern sich die damalige protestantische Schweiz bewußt vom katholischen Frankreich fernhalten wollte. Gerade hier steckt eine gewisse Modernität, die auch aus Deutschland einige begabte junge Leute nach Zürich lockte. Wieland war einer von ihnen. Sein Trauerspiel
"Lady Johanna Gray“ ist das erste aufgeführte deutschsprachige Blankversdrama. Ohne seine Shakespeare-Übersetzungen hätte der Enthusiasmus des Sturm und Drangs nicht entfacht werden können. Seine und später Eschenburgs Übersetzungen erschienen in Zürich. Salomon Gessners Illustrationen und Vignetten schmückten diese Bände. Die deutsche Shakespearomanie ist ohne die Vermittelung der Schweizer nicht denkbar.
Der arme Bauer aus der Ostschweiz, Ulrich Bräker, hinterließ die Aufzeichnungen von den Shakespeare-Dramen, die wegen ihrer wunderbaren Naivität sehr attraktiv sind. In seiner engen Lebenssphäre bemühte sich dieser einfache Mann aus Toggenburg, durch die Lektüre des gesamten Werks Shakespeares ein Weltbürger zu werden. Hier spielt wiederum die protestantische Gesinnung eine wichtige Rolle.
Der berühmte Geschichtsschreiber Johannes von Müller aus Schaffhausen versuchte aus Shakespeares Dramen die Geschichte und deren Bewegungskräfte herauszulesen. Danach entstand seine Geschichte der Eidgenossenschaft, die dann das wichtigste Material für Schillers
"Wilhelm Tell“ wurde. In diesem Sinne kann man wohl behaupten, daß auch das Tell-Drama von der Schweizer Shakespeare-Rezeption indirekt beeinflußt oder angeregt wurde.
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