Zum Verhältnis zwischen Literatur und Politik in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts gibt es in der Forschung zwei gegensätzliche Standpunkte: Einerseits spricht Peter Uwe Hohendahl in seiner literaturhistorischen Untersuchung, die sich auf das normative Öffentlichkeitsmodell von Habermas stützt, über Politisierung der Literatur, insbesondere in der politischen Lyrik, die in der Tat durch die politische Reaktion nach 1848 entscheidend geprägt wurde. Daraus ergebe sich „der institutionelle Charakter der Literatur“ zwischen 1850 und 1870, der vor allem an der Literaturkritik des
Grenzboten-Kreises deutlich wird. Gegenüber der Auffassung Hohendahls, der das Ereignis der politisierten Literatur als produktiv bezeichnet, weist Dieter Breuer in seiner Monografie über die Geschichte der Zensur darauf hin, dass sie nach ihrer vorübergehenden Abschaffung im Zuge des Vormärz in den 1850er Jahren bald wieder aufgekommen und entsprechender politischer Druck auf einzelne Autoren ausgeübt worden sei, deren Freiheit somit wiederum direkt oder indirekt stark eingeschränkt wurde. Bemerkenswerterweise jedoch machen gerade diese gegensätzlichen Perspektiven bewusst, in welchem hohen Ausmaß die politische Bindungskraft auf die Literatur einwirkte. Nicht nur bei Breuer, sondern auch bei Hohendahl erweist sich somit die Politisierung der Literatur als notwendiger Vorgang in der nationalpolitischen Zeit. Literatur bleibe kein Gegenstand der freien öffentlichen Diskussion mehr, sondern werde auf die Bereiche des Freizeitkonsums und der Leserunterhaltung eingeschränkt.
Der Literaturkritiker des
Grenzboten-Kreises Julian Schmidt, der den damaligen „institutionellen Charakter der Literatur“ so gut wie kein anderer vertritt und daher von Hohendahl sehr oft erwähnt wird, übt am österreichischen Autor Adalbert Stifter Kritik. Den harmonischen und idyllischen Momenten, wie sie die literarischen Texte Stifters und auch die sogenannte ‚Dorfgeschichte‘ aufweisen, mangle es an Sinn für soziale Wirklichkeit. Von diesem Standpunkt aus kritisiert er auch Stifters Roman
Der Nachsommer. Aber bei der scheinbar idyllischen, unpolitischen Welt seines Romans handelt es sich gerade um eine Strategie, die Zeitkritk zu verdecken. Stifter hatte große Furcht vor der Zensur des Wiener Vormärz, was bei ihm mit der Zeit zu einer Art verinnerlichter Selbstzensur führte.
Seine Strategie, den Schauplatz sowohl zeitlich als auch räumlich zu verlegen, wendet Stifter nicht nur im
Nachsommer an, sondern letztendlich auch, wenn er einen historischen Roman schreibt. Im Roman
Witiko, der im 12. Jahrhundert im südlichen Böhmen spielt, werden Handwerker, Bauern und arme Leute im Böhmerwald hinsichtlich ihrer deutschen und slawischen Sitten ausführlich beschrieben. Der Protagonist Witiko legt besonderen Wert auf Individualität und Konsensbildung. Daher ist es den „Waldleuten“ auch erlaubt, wiederholt ihre (im Text sorgfältig wiedergegebenen) Meinungen nicht nur zu äußern, sondern auch nach diesen zu handeln. Das gilt u.a., wenn sie Witiko zu ihrem Anführer wählen. Dieser Prozess der demokratischen Konsensbildung wiederholt sich bei Fürsten und Priestern in den politischen Versammlungen beim Herzog Wladislaw. Dabei verdient besondere Beachtung, dass der Herzog oder der Kaiser des Heilligen Römischen Reiches nach der Konsensbildung der Teilnehmer den Umstürzlern Gnade gewährt. Dies ist auch der Grund, warum sich der Fürst Konrad von Znaim gegen den Herzog stellt, ebenso wie Mailand wiederholt gegen den Kaiser rebelliert.
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