Wer J. P. Hebels Kalendergeschichten liest, dem wird gleich auffallen, wie viele Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten es da gibt. Auch wo diese nicht in der eigentlichen Form gebraucht werden, finden sich oft ihre Abwandlungen oder Stellen, die an sie erinnern bzw. auf sie anspielen. Es wäre ohne Übertreibung zu sagen, daß seine Erzählungen mit ihnen gefüllt sind. Es besteht von alters her ein inniger Zusammenhang zwischen den Sprichwörtern und Parabeln oder lehrhaften Schwänken, um die es sich bei manchen Hebels Kalendergeschichten handelt. Daher könnte man sagen, daß seine Kalendererzählungen in dieser alten literarischen Tradition stehen. Andererseits ist das Sprichwort eine dem Volke von klein auf vertraute, einfache literarische Form. Es gehört zu den literarischen Urformen. Dies gilt auch für die Rätsel, die in seinem Kalender hie und da vorkommen. Darüber hinaus läßt sich bemerken, wie häufig sozusagen Urphänomene der Sprache das Motiv der Geschichten bilden: wie in
"Mißverstand“,
"Der Wegweiser“,
"Kannitverstan“,
"Ein Wort gibt das andere“ und sogar auch in
"Die leichteste Todesstrafe“ oder
"Das wohlfeile Mittagessen“. In einem Brief schreibt Hebel:
"Ein großer Teil unseres Lebens ist ein angenehmer oder unangenehmer Irrgang durch Worte.“ (an Sophie Haufe) Diese Erzählungen, deren Motiv die Sprache ist, erwekken den Anschein, als ob man bei ihrem Lesen durch ein Museum der Alltagssprache durchginge. Hier mag Hebel den Lesern, dem ungebildeten Volke, eine Art Sprachlehre erteilen. Nun muß jeder diese vielfältigen Urphänomene im Prozeß des Erlernens der Sprache erlebt haben. In diesem Sinne sind sie den Lesern vertraut. Also hat Hebel seine literarische Welt mit dem Sprachgut des Volkes gestaltet, und trotzdem bleiben ihr alle Gemeinheiten erspart-darin besteht sein literarisches Verdienst. (Man erinnere sich z.B. daran, daß die Hochliteratur traditionell die Sprichwörter als gemeinsamen Sprachbesitz des Volkes verachtet hat. Aber wenn er die Sprache der Hochliteratur als die der Gebildeten gebraucht hätte, wäre dem Volk fremd zumute gewesen und es hätte sich von ihm abgewendet.)
Aber er predigte nicht unkritisch über die alte Moral der Sprichwörter. Manchmal hat er diese umgearbeitet, oder sogar parodiert, um die Gefahr des erstarrten, automatischen Denkens von den Lesern abzuwenden. In seinem Herzen wohnte eine heiße Sehnsucht nach der Freiheit, die ja ab und zu auch als Neigung zum Chaotischen auftauchte. Daraus erklärt sich seine Vorliebe für die schalkhaften Spitzbuben, die in seinen Erzählungen auftreten. Wie Trickster zerstören sie die alltägliche gesellschaftliche Norm und Ordnung (z.B. die Besitzordnung durch Diebstahl und Betrug) und relativieren die herrschenden Werte. In Hinsicht auf die Relativierung der irdischen Werte hatte die Predigt dieselbe Funktion. Wie die religiöse Wahr-heit dem irdischen Auge oft paradox erscheint, so wälzt die Predigt manchmal die irdischen Wertordnung um und weist die nicht von Gott kommenden, nicht in Gott gegründeten Werte als unwesentlich zurück. Und Hebel war auch ein solcher Prediger. Er wohnte überhaupt seit dem Tode seiner Nächsten zugleich im Diesseits und im Jenseits. Wer hat vom Jenseits so anschaulich und vertraut reden können wie J. P. Hebel! (Vgl.: Brief an G. Fecht, Dez. 1795,
"Allgemeine Betrachtung über das Weltgebäude 1813“ usw.) Er spricht von der Fahrt zum Himmel ganz gegenständlich wie ein Naturwissenschaftler. Für ihn waren der Tod wie die Auferstehung sicher, weil sie eine sowohl religiöse als auch wissenschaftliche Wahrheit sind.
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