Abstract
In seiner Metaphysik definiert Baumgarten den Begriff des Urteils (iudicium) oder
Urteilsvermögens (facultas diiudicandi) als „die Wahrnehmung der Vollkommenheit
der Dinge“ (Met.§606). Eine solche Definition erscheint im Kontext der deutschen
Philosophie jener Zeit, die das Urteil überhaupt in der propositionalen Form definierte,
merkwürdig. Außerdem führt er einen Begriff des „sinnlichen Urteils (iudicium
sensitivum)“ ein. Wie lassen sich diese Bestimmung des Urteils in Bezug auf die
Genealogie der Begriffe desselben charakterisieren? In diesem Aufsatz wird diese Frage
im Zusammenhang mit den Genealogien der Logik, der Psychologie, der Poetik und der
Geschmackstheorie untersucht.
Daraus lassen sich die folgenden vier Hauptschlussfolgerungen ableiten. (1)
Baumgartens Bestimmung des Urteils hat ihre direkte Herkunft in der damaligen
deutschen Geschmackstheorien (König und Gottsched usw.) und ist in das
metaphysische System der Wolffischen Schule eingebunden. (2) Diese Bestimmung
beruht ebenfalls auf propositionalen Formen, betrifft aber die Beurteilung von
compossibilitas zwischen den Wahrgenommenen in einen Seienden. (3) Sein sinnliches
Urteil hat eine Vorläuferform in Avicennas Beurteilungskraft (vis aestimativa), ist
aber insofern neu, als es allein von Sinnesbildern abhängt. (4) Sein Vernunftähnliches
(analogon rationis) umfasst viele der Erkenntnisvermögen, die in der vorläufigen
poetologischen Theorie und der Geschmackstheorie verwendet werden.