Abstract
Zuerst wird das Gedicht “Grodek” interpretiert, das Georg Trakl kurz vor seinem Tod, im November 1914, im Krakauer Garnisonsspital in Polen als eines der letzten seiner Dichtungen schrieb. Das Gedicht läßt sich im großen in zwei Teile einteilen: 1) 1-14. Zeile und 2) 15-17. Zeile. Im ersten Teil drücken mehrere Bilder wie z. B. “düstrer hinrollende Sonne”, “zerbrochene Münder” und “ein zürnender Gott” die dunkle Todessituation auf dem Schlachtfeld aus. Im zweiten Teil beklagt der Dichter die toten Soldaten. Er sagt zu ihnen, daß es ein gewaltiger Schmerz des, ‘Überbliebenen’ ist, der noch heute “die heiße Flamme des Geistes” und die ungebornen Enkel” nährt. Der Ausdruck “die ungebornen Enkel” symbolisiert den Lebenswillen und die Lebenskraft der Sterbenden, die noch weiter leben könnten, wenn dieser Krieg nicht ausgebrochen wäre.
Dagegen sagt M. Heidegger: “Die hier genannten “Enkel ’sind keinesfalls die ungezeugt gebliebenen Söhne der gefallenen Söhne.” Der Grund dieser seiner Interpretation liegt darin, daß die sterbenden Krieger dem verwesenden Geschlecht entstammten und die ungeborenen Enkel keine unmittelbaren Nachkommen des verfallenen Geschlechtes sein können. Auch W. Höllerer weist auf diese Andersartigkeit der Krieger und Enkel hin. Seiner Interpretation nach sind “die Enkel” Andeutung der neuen enthobenen Zukunft; und der gewaltige Schmerz vermag dorthin eine Brücke zu schlagen. Hier versteht Höllerer, daß dieser Schmerz der der sterbenden Soldaten sei. Wenn man aber den hier genannten Schmerz für den des Dichters hält, so kann man den ganzen Zusammenhang besser begreifen. Diese Auffassung beruht auf der Tatsache, daß Trakl von einem tiefen Schmerz überwältigt wurde, als er nach der Schlacht von Grodek im September 1914 ohne ärztliche Assistenz die Betreuung von neunzig Schwerverwundeten übernehmen mußte.
Allerdings ist dieses Gedicht weder eine Schilderung des Schlachtfeldes noch eine bloße Beschreibung des Eindrucks des Dichters in einer Grenzsituation. Die hier auftretenden Bilder drücken wie in anderen Traklschen Gedichten sein Hauptmotiv, d. i. Verfall und Tod, aus. Verfall und Tod sind für ihn die einzige Wirklichkeit gewesen. Bemerkenswert ist es aber, daß diese seine Innenwelt in unserem Gedicht durch die Kriegsbilder zum Ausdruck gebracht ist. Die Bilder wie “zerbrochene Münder” zeigen die Traklsche Verfallsvorstellung gegenständlich, während seine andren Gedichte diese innere Welt mit Hilfe der Traumbilder und Farbensymbolik nur metaphorisch offenbaren. Der Stoff des Gedichts, der Krieg nämlich, dient also dazu, die geschlossene Innenwelt des Dichters dem Leser zugänglich zu machen. Hier sind die Sprachbilder nicht nur als Metapher der subjektiven Wirklichkeit des Dichters, sondern auch als Darstellung der objektiv-äußeren Wirklichkeit gebraucht. Diese beiden Wirklichkeitsebenen sind in “Grodek” gleichsam zu einer Einheit gebracht. Gerade diese Einheit macht sein Mitleid und Mitgefühl mit den anderen Menschen (hier den sterbenden Soldaten) echt und eindrucksvoll.
Die Korrespondenz der subjektiven und objektiven Wirklichkeitsebenen vermißt man in Heyms “Der Krieg I” und Stadlers “Der Aufbruch”, wo alle Kriegsbilder rein als Metapher gebraucht sind.