Abstract
Der Name Heinrich von Ofterdingen (H. v. O.) ist den meisten Germanisten heute vor allem durch das beliebte Werk von Novalis wohl vertraut, während das mhd. Gedicht "Der Wartburgkrieg“, in dem er zum erstenmal auftritt, nur von wenigen gelesen wird. Die Art und Weise des Daseins, das ein Dichter des Namens H. v. O. in der Geschichte der deutschen Literatur sowie in deren Forschungsgeschichte geführt hat und heute noch führt, ist aber so merkwurdig, daß wir kaum auf die Frage verzichten können, warum gerade in der deutschen Literatur ein solcher Dichter existiert, ein Dichter, der als Gestalt nicht greifbar ist und trotzdem oder eben deshalb die Nachwelt so sehr bewegt. Während es bis heute noch keinem Forscher gelungen ist, H. v. O. in überzeugender Weise mit einer historischen Person zu identifizieren, existiert H. v. O. ohne Zweifel in der literarischen Welt schon seit dem 13. Jahrhundert, unabhängig davon, ob wir uns heute dafür begeistern oder darüber ärgern. Seine Existenz besteht gerade darin, daß seit 700 Jahren so viele Dichter und Gelehrte über ihn geredet haben. Diese Existenzweise kann man wohl mit vollem Recht als "sagenhaft“ bezeichnen.
Von den sagenhaften Helden der mhd. Epen (Artus, Siegfried usw.) unterscheidet sich H. v. O. in der Hinsicht, daß die Wartburgkriegsage, in der er als Zeitgenosse des Landgrafen Hermann von Thüringen (†1217) vorgeführt wird, erst durch das obengenannte mhd. Gedicht entstanden ist, während jene schon als sagenhafte Gestalten überliefert waren, bevor sie in die mhd. Dichtung eintraten. Die Wartburgkriegsage kann man eher zur sogenannten mhd. Dichterheldensage zählen, wie z.B. die Tannhäusersage, Neidhartsage usw. Was H. v. O. als solchen betrifft, so ist die Sage aber wesentlich anders beschaffen als jede mhd. Dichterheldensage, bei der man doch-wenigstens theoretisch-unterscheiden kann zwischen dem Helden der Sage und dem Autor der mhd. Texte, die als dessen Werk überliefert sind. Bei der Sage des H. v. O. ist an eine solche Unterscheidung nicht einmal zu denken. Denn die Sage bildet sich in diesem Fall nicht um einen historischen Dichter, sondern macht erst die ganze Existenz eines sagenhaften Dichters aus.
Wenn wir wirklich weder von seinem Leben noch von seinem Werk etwas wissen, was auf Realitäten basiert, so können wir eigentlich nicht fragen, in welcher literarischen Darstellung H. v. O. seiner "eigentlichen Gestalt“ am nächsten stehe, in dem mhd. Streitgedicht oder in den späteren Chroniken oder bei Novalis oder Hoffmann u.a. In dieser Hinsicht scheint er eine gewisse Gemeinsamkeit mit Faust zu haben, mit einer sagenhaften Person, die vielmehr einen bestimmten Menschentyp darstellt und von manchen deutschen Dichtern der neueren Zeit mit Vorliebe als Stoff zur eigenen dichterischen Gestaltung benutzt worden ist.
Wenn Faust Zauberer, Forscher und Wissenschaftler ist, so ist H. v. O. nichts anderes als Dichter (+ Musiker), Künstler und Meister. Das bedeutete für diejenigen, die sich aktiv an der Entstehung und Verbreitung seiner Sage beteiligten, die also selber auch Dichter waren, nichts anderes als daß sie in ihm einen "Kollegen“ sehen konnten. Das ist ein wichtiges Charakteristikum, das diese Dichtersage für uns besonders interessant macht, wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, was ein Dichter ist. In jeder literarischen Darstellung von H. v. O. spiegelt sich nämlich das Dichterselbstbewußtsein des betreffenden Autors, und dies gilt nicht nur für die Romantiker, sondern auch für die unbekannten Autoren der mhd. Texte, vor allem aber für den Autor des "Fürstenlob“, in dessen erster Strophe H. v. O. als der meister vorgeführt wird, der das êrste singen hie nu tuot,