die Deutsche Literatur
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Zu Anderschs nachgelassener Erzählung "Der Vater eines Mörders“
HIDEO SAKAI
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1983 Volume 70 Pages 21-30

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Abstract
In seiner nachgelassenen Kurzgeschichte, wie er sie nannte, "Der Vater eines Mörders“ steht eine Griechischstunde im Mittelpunkt, die Alfred Andersch als Tertianer an einem Tag im Mai des Jahres 1928 erlebt hat. Hier wird ausführlich geschildert, wie der Direktor des Gymnasiums, Heinrich Himmlers Vater, in dieser Stunde drei Schüler einer unangekündigten Prüfung unterzieht und daraufhin Andersch und einen anderen ohne hinreichenden Grund vom weiteren Besuch der Schule ausschließt. In dieser Schilderung erscheinen klar und deutlich die Unfruchtbarkeit des Lernens in der Schule, die Unmenschlichkeit in der Organisation der Schule, das Wesen des Lehrers als Mörder der Seelen der Schüler, die Schwäche der Schüler, die sich nicht dagegen wehren, daß der Lehrer ihre Seele mordet, und die Qualen des Schülers Andersch, für den die Literatur den letzten Halt bildet, um in so einer unmenschlichen, unfruchtbaren Öde seine Seele zu schützen und sich entfalten zu lassen. Diese Haltung des Schülers Andersch gegenüber der Schule stimmt mit der der modernen Schriftsteller überein, die mit der Literatur als letzter Waffe gegen die moderne Gesellschaft kämpfen, die die Vernichtung von Körper und Geist des Menschen unternimmt. Das unmenschliche System der Schule entspricht genau dem der modernen Gesellschaft, und Andersch hat tatsächlich diese Art von System in allen realen Situationen, die er das ganze Leben hindurch erfuhr, in der Schule, dem kommunistischen Jugendverband, dem Konzentrationslager, dem Dritten Reich, der Armee und der Gesellschaft der Bundesrepublik. Im Grunde handeln auch alle seine Werke von diesem System, und als durchgängiges Thema findet man bei ihm die Flucht des Menschen vor der modernen Gesellschaft, die Körper und Geist des Menschen zu vernichten unternimmt. Dem entsprechend hat Andersch auch in der Schilderung eines Gymnasiums in der Weimarer Republik dieselbe Grundstruktur dargestellt, die man in allen seinen Werken findet, und damit zugleich das unmenschliche System, das es in unterschiedlichen Formen in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und auch in der Bundesrepublik gibt. Auf diese Weise hat er gezeigt, daß die Kräfte der Finsternis, die im Dritten Reich offen zutage traten, auch in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik latent wirksam sired. So etwas wie eine Art Krisenbewußtsein, daß eben diese verborgene Finsternis wieder hervorkommen könnte, dürfte Andersch veranlaßt haben, diese Kurzgeschichte zu schreiben. Schließlich möchte ich noch kurz die letzte Szene bei Familie Andersch erwähnen, als der Junge nach Hause kommt, nachdem man ihn vom Unterricht ausgeschlossen hat. Meiner Meinung nach entspricht diese Szene dem letzten Kapitel "Die Wildnis“ von Anderschs Autobiographie "Die Kirschen der Freiheit“, und auf diese Weise schließt sich der Kreis von Anderschs literarischem Werk. In dieser Wiederkehr öffnet sich der Raum von Anderschs Werk dem Mythischen. Andersch selber erscheint als tragischer Held im mythischen Raum der Literatur, und man kann wohl sagen, daß er zu den heldenhaften Leidensgenossen in unserer Zeit gehört. In seiner letzten, unvollendet gebliebenen autobiographischen Aufzeichnung "Böse Traüme“ heißt es, daß "die Literatur, diese Archäologie der Seele, natürlich auf der Gegenwart der Vergangenheit besteht“. Ich denke, in seiner postum veröffentlichten Kurzgeschichte ist es Andersch gelungen, eine uralte Schicht seiner Seele freizulegen.
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