Abstract
Einer der hervorstechendsten Charakterzüge der Dramen Schillers von "Die Räuber“ bis zu "Demetrius“ besteht in seinem "Drang nach der Größe“. Dieser Drang macht ihn zum Tragödiendichter. Denn die Tragödie ist eben "die Kunstform der Größe“ (W. Kayser). Nach seinen großen vollkommensten Tragödien "Wallenstein“ und "Maria Stuart“ entfernt sich jedoch der Dichter von den großen Tragödien und geht von der opernhaften Form, wie wir sie in "Die Jungfrau von Orleans“ und in "Die Braut von Messina“ kennen, zur episch-idyllischen Form über, wie sie in "Wilhelm Tell“ erscheint. Wie kam er dazu?
Man könnte dies daraus erkläaren, daß der Dichter nach "Wallenstein“ eine noch viel höhere poetisch-geistige Welt erreicht und daß er jedesmal, wenn er neue Stoffe fand, die ihnen entsprechende Form schuf. Der Formenwandel in seinen späteren Dramen mag aber auch aus einem ganz anderen Standpunkt zu erklären sein.
Neben dem Drang nach der Größe kann man auf noch einen anderen Charakterzug seiner Dramen, nämlich auf das Interesse an der historisch-politischen Wirklichkeit hinweisen. Das gilt nicht nur füur seine früheren, sondern auch für seine späteren Dramen. Wiederholt bearbeitet er welt-geschichtlich-politisch große Ereignisse als dichterische Stoffe und sieht im Spiegel dieser Ereignisse die gerade sich entwickelnde Französische Revolution.
Was er in der Französischen Revolution sieht, sind:
1) die Widersprüche zwischen der Absicht und dem Handeln des Menschen,
2) die Wirklichkeit des Menschen, der ins große Räderwerk des Geschichtsprozesses verwickelt wird,
3) die Kraft der Volksmasse, die die europäische Welt von Grund auf umwälzt; in ihr auch sieht der Dichter als Welthistoriker den "Beginn einer Ära der Massenpolitik“.
Meines Erachtens ist der dritte Punkt bei Untersuchung seiner späteren Dramen von großer Bedeutung, d.h. der Formenwandel seiner späteren Dramen hängt eng mit seinem Versuch zusammen, diese große Kraft der Volksmasse, die er in der Revolution und in den Revolutionskriegen erkannte, in den Dramen zum Ausdruck zu bringen.
Während in "Wallenstein“ das Volk im großen und ganzen als negative Kraft, als "wie Meeres blindbewegte Wellen“ dargestellt wird, wird es in "Orleans“ oder in "Messina“ nicht mehr so negativ gesehen. In der idyllischen Welt des "Tell“ wird es dann, wenn auch als Utopie gegenüber der Französischen Revolution, als die Kraft-Individuum und Masse als Ganzes-des Aufstandes gegen die Habsburger dargestellt, die sich in diese idyllische Welt eindrängt. Das Volk wird weiter in der Rütliszene ganz anders als in "Wallensteins Lager“ dargestellt. Hier trifft es auf das die Geschichte schaffende bewußte Subjekt. Wenn das Volk als die Hauptfigur des Dramas auftritt, dann sind "Tragödie und Tragik nicht mehr möglich“ (H. Schlaffer). Die Wandlung der Rolle des Volkes verursacht meines Erachtens notwendigerweise auch die Wandlung der Form der späteren Dramen Schillers.