Neue Beiträge zur Germanistik
Online ISSN : 2433-1511
Aufsätze
„Ich war bei dem Fischotter zu Hause“
Zur ›(Un-)bewohnbarkeit‹ in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert
Keiko TANABE
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2020 Volume 160 Pages 188-203

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Abstract
  Walter Benjamins Kindheitserinnerungsarbeit Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1932-1938, Abk. Berliner Kindheit) wurde wegen des fragmentarischen Charakters der einzelnen Stücke als „ein unabgeschlossenes work in Progress“ (Giuriato, 2006) bezeichnet. Bedauerlicherweise wurde diese Arbeit zu seinen Lebzeiten nicht mehr publiziert. Aber es ist eindeutig erkennbar, dass Benjamin seinen Text immer wieder zu veröffentlichen versuchte, weil, wie er meinte, dieser den „tausenden von vertriebenen Deutschen etwas zu sagen“ habe, wenn auch ihm selbst seine schriftstellerische Tätigkeit schon unmöglich gemacht wurde. Diese Abhandlung beschäftigt sich mit der Frage, warum Benjamin trotz der damaligen lebensbedrohlichen Situation an der Publikation der Berliner Kindheitfesthielt und was er seinem möglichen Lesepublikum mitteilen wollte. Dabei spielt der Gestus des „Bewohnen“ eine zentrale Rolle, der das Werk stringent durchzieht.
  Auf der Konzeptionsebene der Berliner Kindheit hingegen dominiert die ‚Kürzungʻ der einzelnen Stücke. Von 1932 bis 1938 versuchte Benjamin nicht die vonhandenen Texte zu vermehren, sondern stattdessen die autobiographischen Informationen in ihnen zu tilgen. Für das Verständnis dieses Umarbeitungsprozesses muss besonders auf den Übergang vom Manuskript zum Typoskript eingegangen werden. Einen wichtigen Anhaltspunkt hierfür liefert ein Notizbuch, das Benjamin während seines Lebens im Exil immer bei sich trug und auf dem er handschriftlich Berliner Chronik (1932) notiert hatte. Benjamin bezeichnete es als „Quartier“, in dem seine Gedanken zu „Gast“ seien. Doch ist das in ihm „[A]ufgenommene“ nur ein vorübergehender Gast, der die Behausung wieder verlassen wird. Erdmud Wizisla weist darauf hin, dass „er [Benjamin]Drucke ›Häuser‹ hätte nennen müssen.“ Während das Quartier eine provisorische Unterkunft ist, dient das Haus dem Menschen zum langfristigen Bewohnen. In Bezug auf die eigentliche Wortbedeutung wäre die Berliner Kindheit somit ein Haus, in dem „die Bilder [Benjamins] Großstadtkindheit“ aufbewahrt werden. Benjamin bezeichnet sich überdies selbst als jemanden, „der selber nicht mehr recht zum Wohnen kommt.“ „Unbewohnbarkeit“ bezieht sich einerseits auf die großstädtische Erfahrung, die von dem unaufhaltsamen scrap & build geprägt ist und die deshalb keine Kontinuität aufkommen lässt. Andererseits aber bietet der unbewohnbare Ort demjenigen ein Zuhause, der selbst andernorts nicht wohnhaft wird. Diese Doppeldeutigkeit der Unbewohnbarkeit verkörpert die Loggia der bürgerlichen Wohnung, in der Benjamin als Kind jene Geborgenheit findet, die andere Teile der Stadt ihm verwehren, da sie als ein Übergang zwischen dem Innen der Wohnung und dem Außen der Stadt einen ‚Zwischenraumʻ eröffnet.
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