die Deutsche Literatur
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DER GRUNDBEGRIFF DER KRITIK BEI WALTER BENJAMIN
HISAO TAKAGI
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1967 Volume 39 Pages 79-88,142

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Abstract
Von allen philosophischen und ästhetischen Fachausdrücken dürften die Worte “Kritik” und “kritisch” in den Schriften der Frühromantiker die häufigsten sein. Durch Kants philosophisches Werk hatte der Begriff der Kritik für die jüngere Generation eine gleichsam magische Bedeutung erhalten. Er verband sich nicht mit dem Sinn einer bloß beurteilenden, nicht-produktiven Geisteshaltung, sondern für die Romantiker bedeutete der Terminus “kritisch”: objektiv produktiv, schöpferisch aus Besonnenheit.
In dieser positiven Bedeutung gewinnt das kritische Verfahren die nächste Verwandtschaft mit dem reflektierenden. Die Reflexion erweitert sich schrankenlos, und das in der Reflexion geformte Denken wird zum formlosen Denken, welches sich auf das Absolutum richtet. Die Romantiker verlangen für das Werk eine immanente Kritik, die in ihrer zentralen Absicht nicht Beurteilung, sondern einerseits Vollendung, Ergänzung, Systematisierung des Werkes, andrerseits seine Auflösung im Absoluten bedeutet.
“Wir müssen uns über unsre eigene Liebe erheben und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können, sonst fehlt uns...der Sinn für das Unendliche.” In diesen Äußerungen hat Schlegel sich über das Zerstörende in der Kritik, über ihre Zersetzung der Kunstform deutlich ausgesprochen. Das Zerstörende und das Absolutum in der Kritik spielen auch bei Benjamin eine große Rolle.
“Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie.” Diese Progressivität ist durchaus nicht das, was unter dem modernen Ausdruck “Fortschritt” verstanden wird, nicht ein gewisses, nur relatives Verhältnis der Kulturstufen zueinander. Sie ist, wie das ganze Leben der Menschheit, ein unendlicher Erfüllungs-, kein bloßer Werdeprozeß. Dieser Erfüllungsprozeß ist die Geschichte. Der Begriff Geschichte meint nicht die bloße Aufeinanderfolge von Begebnissen und Zuständen, sondern die Erlösung von Mensch und Natur. Er mißt die Begebnisse und Zustände am Unbedingten der Erlösung. Der Begriff Geschichte schließt deshalb die Kritik des Bestehenden ein. Die Kritik verlangt von ihrem Gegenstand immer das Höchste. Das Höchste ist Ursprünglichkeit. In der Vergangenheit sucht Benjamin immer den “Ursprung”. In der “Einbahnstraße” heißt es unter dem Titel “Verlorene Gegenstände”: “Haben wir einmal begonnen, im Ort uns zurechtzufinden, so kann jenes früheste Bild sich nie wiederherstellen.” Um dieses frühesten Bildes willen, das nicht verloren gehen darf, weil es die Zukunft birgt, wird die Fähigkeit sich zu verirren zum Wunsch. Zwar ist der Weg zum Ursprung ein Weg zurück, aber zurück in ein Künftiges, das mehr vom Versprechen bewahrt als dem heutigen Bild von der Zukunft gegeben ist.
Benjamin will die Dinge nicht in ihrem ahistorischen Wesen schauen, sondern er strebt nach historischer Erfahrung und Erkenntnis. Nach Benjamins Lehre wohnt der Wahrheit selbst ein “Zeitkern” inne, der den Begriff eines ontologisch reinen Seins verwehrt. Benjamin hatte sich des Kinderglaubens an die geschichtslose Unveränderlichkeit und Dauer geistiger Gebilde tapfer entschlagen. Für ihn sind “historisch” und “dialektisch” dasselbe. Sein dialektisches Denken gibt der Erfahrung und Erkenntnis eine große Schwingweite. Die Erkenntnis, die einer konkreten Totalität der Erfahrung entspricht, begründet Benjamins Kritik.
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