Abstract
Meine These: Franz Kafkas Erstes Leid ist eine metafiktionale Erzählung in dem Sinn, daß sie mit ihrer Handlung und Formulierung ihren Entstehungsprozeß selbst darstellt.
Malcolm Pasley will in seinem Beitrag "Der Schreibakt und das Geschriebene. Zur Frage der Entstehung von Kafkas Texten“ deutlich machen, daß bei Kafka merkwürdige Beziehungen zwischen den Besonderheiten der von ihm gewählten Schriftträger und den darauf niedergelegten Erzählinhalten bestünden. Als Beispiel solcher Besonderheiten der Schriftträger zieht er ein Papierblatt heran, "das er (sc. Kafka) später einmal vor sich hinlegte, um darauf mit winzigsten Schriftzügen sein Erstes Leid zu schreiben-sich damit gleichsam den knappsten Exerzierplatz anweisend für seine schwierigen und beängstigenden schriftstellerischen Turnkunststücke, welche diese kleine Geschichte darstellt und zugleich in sich selbst, als Schreibakt, verkörpert“. Meine Arbeit hat die Absicht, diese allgemeine, gleichnishafte Bemerkung von Pasley detailliert am Text zu belegen und zu ergänzen.
Die Erzählung Ersles Leid ist auf einem einzigen Papierblatt, das ja bei ihrer Niederschrift als die wichtigste konkrete Schreibbedingung im Sinne von Pasley funktionierte, geschrieben. Daß nicht nur das Blatt verhältnismäßig klein ist, sondern auch die Fläche des Blattes ein begrenzter Raum ist, ist sehr wichtig, weil der Schriftsteller auf ihm so nur eine bestimmte Quantität seines Textes niederschreiben kann. Auf einem leeren weißen Blatt schrieb Kafka, oben links auf der Recto-Seite beginnend, seine Federspitze schaukelnd führend, seinen Text mit schwarzer Tinte bis unten zur rechten Ecke, und dies, ohne irgendeinen Rand zu lassen. Um den Text fortzuschreiben, mußte er das Blatt unvermeidlich umkehren. Er setzte dann seine Feder auf der Verso-Seite wieder oben an und schrieb weiter. Diese sachlichen Verhältnisse haben eine wesentliche Bedeutung für den Inhalt der Erzählung.
Um der Analyse willen gliedere ich die Erzählung in zwei Teile. Der auf der Recto-Seite geschriebene Text (vom Anfang bis etwa zur Mitte des Satzes "für die Fahrten in den Städten benützte man Rennautomobile, mit denen man…mit letzter Geschwindigkeit jagte“) mache den 1. Teil aus, während der Text der Verso-Seite den 2. Teil bilden soll.
Daß der Trapezkünstler den Text oder die ihn schreibende Federspitze bedeutet, geht aus den Stellen hervor, an denen er auf den beiden Seiten des Blattes genannt ist, und aus der Art, in der er sich fortbewegt. Am Anfang bleibt ja der Trapezkünstler (der entstehende Text auf dem Manuskriptblatt oder die schreibende Spitze) hoch oben in den Kuppeln (auf der Seite oben, in den Kuppelungszeichen), dann kommt er auf dem schaukelnden Trapez (mit den Zeilen des Textes oder der Federspitze) allmählich, aber notwendig bis zum Boden (auf der Seite unten) herunter. Der Künstler muß die unvermeidlichen Reisen von Ort zu Ort (von der Recto-Seite zur Verso-Seite) machen. Am Anfang des 2. Teils der Erzählung bleibt er nochmals in einem Kupee oben im Gepäcknetz (i.e. die variierte Formulierung von "hoch in den Kuppeln, auf dem Trapez“ im gleichen Topos auf der Seite), und im nächsten Gastspielort (auf der Verso-Seite) hängt er wirklich wieder oben an seinem Trapez (auf der Seite oben). Auf der Reise zum nächsten Ort sags der Trapezkünstler, er wolle das zweite Trapez haben. Es bedeutet in der Metaphorik dieser Erzählung das zweite Papierblatt, darauf der Text fortgeschrieben worden wäre. Die Erzählung endet aber unterwegs,