die Deutsche Literatur
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Volume 90
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  • RIEKO TAKADA
    1993 Volume 90 Pages 1-12
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
    1. Weit entfernt von dem Genie
    Die moderne Literaturauffassung, die großen Wert auf das Genie legt, hat dem begabtesten Dramatiker des deutschen Barock, Andreas Gryphius, den zweiten Rang zugewiesen. Es war sein Unglück, daß er als Zeitgenossen zwei unvergleichliche Genies, Shakespeare und Calderón hatte, die unsere Aufmerksamkeit umso mehr auf Gryphius' Mediokrität lenken. Aber glücklicherweise hat der Schlesier selbst Shakespeare nicht gekannt und ganz bequem in seinem Herrn Peter Squentz jenen Sommernachtstraum bearbeitet, der später vielen Künstlern wie z.B. Mendelssohn, Max Reinhardt, Woody Allen oder Botho Strauß schöpferische Anregungen gegeben hat. Wir müssen seine tapfere Unwissenheit beneiden, da das Thema "Shakespeare-Rezeption in Deutschland“ selbst leider nicht mehr so originell scheint. Gryphius konnte, ohne vom Originalitätsgedanken gequält zu werden, der den Barockmenschen noch fremd war, anonyme paneuropäische Motive aufnehmen. Er verdankt ja dem Genie Shakespeares nichts, er ist sogar ein unschuldiges Opfer des Themas "Shakespeare-Rezeption in der deutschen Literatur“.
    2. Kein Problem (-drama)!
    Gryphius fand die Handwerkerszenen, d.h. das Motiv des Scheiterns einer Aufführung schon isoliert vom Sommernachtstraum vor. Für den sehr belesenen Dramatiker, der in seinen Dramen fast immer vorhandene Texte bearbeitet und daraus typische (oder banale) Barock-Figuren oder -Themen herauskristallisiert hat, muß es leicht gewesen sein, in dem damals beliebten Squentz-Stoff jenes allzu bekannte Sein-Schein-Schema zu finden. Aber die sogenannte Absurdität des menschlichen Daseins, die im modernen Drama (z.B bei Pirandello oder bei Thomas Bernhard) oft durch diesen Stoff zum Ausdruck gebracht wird, ergreift weder Shakespearesche noch Gryphiussche Handwerker. Man kann sagen, daß es in dieser heiteren Problemlosigkeit der Handwerker der einzige gemeinsame Punkt der beiden Dramatiker liegt. Mit dem Verschwinden des Possenspiels im Feenreich muß auch "Shakespeare our Contemporary“ von der Bühne abtreten.
    3. Vom Wald zum Hof
    In beiden Komödien spielt der Hof eine entscheidende Rolle: Nicht nur das Spiel im Spiel, sondern auch die Komödie selbst war für die Mitglieder des Hofes. Von diesem Standpunkt aus gesehen, die billige Satire auf die Handwerker (Meistersinger), die den guten Opitz-Schüler vom freien Genie zu unterscheiden scheint, bildet nicht mehr den Kern der komischen Momente. Denn die auf den Hof abgestimmte Komödie zielt nicht auf das Verlachen des nicht einmal verlachenswürdigen Pöbels, sondern darauf, den Zuschauern am Hofe einen "Schauplatz“ anzubieten, wo sie über sich selbst lachen können. Dabei zeigen sie, wie groß und großmütig sie den über sie selbst gemachten Scherz erlauben. Die lächerliche Verwirrung der Liebe im Feenwald, in die die Standespersonen im Sommernachtstraum verwickelt werden, stellt einen solchen Scherz dar. Und diese Einstellung der Hofmitglieder als spielender Zuschauer läßt sich auch bei Gryphius erkennen, obwohl die unmittelbare Vorlage des Squentz (die Komödie von Daniel Schwenter) wahrscheinlich kein aristokratisches Publikum in und vor dem Spiel hat, d.h. das Gryphiussche Spielpublikum keine direkte Verbindung mit dem Shakespeareschen hat. In dem "deutschen Sommernachtstraum“ ohne (Alp-)Traum, nämlich ohne jenes tragikomische Liebespossenspiel im Feenwald tritt aber das Motiv des Todes der Tragödie umso stärker in den Vordergrund. In der Figur des Königs, der bewußt über die Degradierung der Tragödie, über die Entlarvung des Tragödienhelden lachen kann,
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  • Hintergrund und Geschichte der Shakespeare-Rezeption von Bodmer bis Bräker
    KEIZO MIYASHITA
    1993 Volume 90 Pages 13-23
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
    Die deutsche Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts zeigt zwei Linien, die sich geographisch kreuzen. Eine Linie verbindet den Leipziger Literaturprofessor Gottsched mit der klassizistischen Literaturtheorie der Franzosen, die andere Bodmer und Breitinger mit der britischen Literatur. Jede deutsche Literaturgeschichte erwähnt die Kontroverse zwischen Gottsched und den Schweizern. Seltsamerweise aber wird fast nie gefragt, wie oder warum die Schweizer in der englischen Poetik das Muster ihrer literarischen Tätigkeit erblickten.
    Der Anlaß dazu liegt wohl in einer geschichtlichen Phase, in der der Protestantismus in England sowie in der Stadt Zürich seine Herrschaft stabilisierte. Jahrzehnte nach der, glorreichen Revolution‘ in England entrissen Zürich und Bern den katholischen Orten im zweiten Villmerger Krieg die Vorherrschaft. Diese religiös-politische Entwicklung führte zu einem kulturellen Kontakt der protestantischen Schweiz mit England.
    Thomas Platter ist der erste Schweizer, und zwar sehr wahrscheinlich der erste Europäer vote Kontinent, der als Zeitgenosse die Shakespeareschen Theater besuchte und darüber schrieb. Schon vor Bodmer teilte Beat Ludwig von Muralt seinen Landsleuten von den Dramen Shakespeares in Briefform mit. Unter den Literaturhistorikern ist bekannt, daß Bodmer in seinem 1732 erschienenen Buch zum erstenmal den Dramatiker erwähnte. Aber schon 1724 hatte er ein Blankversdrama "Mark Anton und Kleopatren Verliebung“ geschrieben. Es handelt sich zweifellos um eine Imitation der Tragödie "Antony and Cleopatra“. Seit 1740 häuften sich Bodmers Erwähnungen Shakespeares, und somit wurde er der erste wichtige Wortführer des elisabethanischen Dramatikers in Kontinentaleuropa. Den Kern seiner Shakespeare-Bewertung hatte Bodmer gewiß dem englischen Schriftsteller Addison entlehnt. Man merkt doch in Bodmers Position gegen Gottsched ein nationales Moment, insofern sich die damalige protestantische Schweiz bewußt vom katholischen Frankreich fernhalten wollte. Gerade hier steckt eine gewisse Modernität, die auch aus Deutschland einige begabte junge Leute nach Zürich lockte. Wieland war einer von ihnen. Sein Trauerspiel "Lady Johanna Gray“ ist das erste aufgeführte deutschsprachige Blankversdrama. Ohne seine Shakespeare-Übersetzungen hätte der Enthusiasmus des Sturm und Drangs nicht entfacht werden können. Seine und später Eschenburgs Übersetzungen erschienen in Zürich. Salomon Gessners Illustrationen und Vignetten schmückten diese Bände. Die deutsche Shakespearomanie ist ohne die Vermittelung der Schweizer nicht denkbar.
    Der arme Bauer aus der Ostschweiz, Ulrich Bräker, hinterließ die Aufzeichnungen von den Shakespeare-Dramen, die wegen ihrer wunderbaren Naivität sehr attraktiv sind. In seiner engen Lebenssphäre bemühte sich dieser einfache Mann aus Toggenburg, durch die Lektüre des gesamten Werks Shakespeares ein Weltbürger zu werden. Hier spielt wiederum die protestantische Gesinnung eine wichtige Rolle.
    Der berühmte Geschichtsschreiber Johannes von Müller aus Schaffhausen versuchte aus Shakespeares Dramen die Geschichte und deren Bewegungskräfte herauszulesen. Danach entstand seine Geschichte der Eidgenossenschaft, die dann das wichtigste Material für Schillers "Wilhelm Tell“ wurde. In diesem Sinne kann man wohl behaupten, daß auch das Tell-Drama von der Schweizer Shakespeare-Rezeption indirekt beeinflußt oder angeregt wurde.
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  • Sturm und Drang und Shakespeare
    SENICHI HIROSE
    1993 Volume 90 Pages 24-34
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
    Die Vertreter des Sturm und Drang fühlten sich in der Welt des Rationalismus und der Empfindsamkeit, die das Drama der Aufklärungszeit bot, fremd und lehnten es ab. Es waren die Dramen von Shakespeare, die sie begeisterten, und sie nahmen den Begriff "Natur“, den englische Kritiker wie Dryden, Addison und Pope bei der Lobpreisung der Shakespeareschen Dramen angewendet hatten, für das Prinzip, aus dem ihre neuen Dramen zu schaffen waren. Die Shakespearesche "Natur“ gab den Stürmern und Drängern den Ansatz, aus dem sie das aufklärerische Drama kritisieren konnten, dessen Thema meistens die allgemeine Menschlichkeit war. Die "Natur“ leitete die Blicke der Stürmer und Dränger auf Eigentümlichkeit und Individualität, nicht auf Allgemeinheit. Die unbegreiflichen, unvernünftigen Mächte im menschlichen Innern, die die Menschen treiben, wie die Angst und Verzweiflung von Macbeth, die Leidenschaft und der Wahnsinn von König Lear und die Melancholic von Hamlet, machten einen tiefen Eindruck auf die Stürmer und Dränger. Daher griffen sie solche Gefühle und innerliche Kräfte gern als Thema ihrer Dramen auf.
    Gerstenberg behandelte in seinem Drama "Ugolino“ die Geistesstörung eines verhungernden Menschen und nahm dabei den Wahnsinn des Königs Lear zum Muster. In den "Zwillingen“ von Klinger zeigen sich die Schlaflosigkeit und Sinnestäuschung des Helden Guelfo, die von seiner Angst und Neurose verursacht sind. Klinger gestaltete wahrscheinlich dieses Bild Guelfos unter dem Einfluß von "Macbeth“. Die Melancholie von Grimaldi, Guelfos Freund, ist vielleicht eine Nachbildung der Melancholia Hamlets.
    Herder erläuterte die Strukturen und das poetische Wesen von Shakespeares Dramen durch den Begriff "Natur“. Nach seiner Ansicht ist jedes Stück Shakespeares ein Mikrokosmos, der wie die Natur eine organische Einheit bildet, und die Einheit jedes Stücks ist durch "das Individuelle“ oder "die Hauptempfindung“, die jedes Stück durchströmt, hervorgebracht. Er lehnte damit die formale Einheit des Dramas wie die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung ab und forderte poetische Einheit.
    Goethe verwirklichte in seinem Drama "Götz von Berlichingen“ einen Shakespeareschen Mikrokosmos. Er wählte das 16. Jahrhundert, wo der Bauernkrieg ausbrach, als Zeit und einen deutschen Hof, Schlösser, Herbergen, Wälder usw. als Ort. So schuf er einen großen dramatischen Raum voll von Bildern, Farben und eigentümlichen Atmosphären.
    Lenz schrieb nicht historische, sondern aktuelle Dramen, die Probleme seiner Zeit behandelten. Wie Shakespeare stellte er in seinen Dramen das Schicksal von Menschen dar, indem er viele Auftritte häufte und verschiedene Szenen häufig wechseln ließ. Seine Hauptpersonen, Läuffer im "Hofineister“ und Mariane in den "Soldaten“, sind jedoch keine Mächtigen wie König Lear oder Macbeth, sondern Kleinbürger und durchaus passiv. Sie können sich nicht in das gesellschaftliche System einfügen, das ihnen deshalb zum Verhängnis wird. Lenz schuf soziale Dramen, indem er passive Hauptpersonen gestaltete und ihr soziales Schicksal darstellte.
    Lenz entlehnte den Shakespeareschen Dramen wie "König Lear“ und "Macbeth“ den häufigen Wechsel der Szenen und die schnelle Entwicklung der Handlung. Aber er beschleunigte die Entwicklung noch. Er gestaltete jede Szene fragmentarisch und setzte diese kurzen Szenen ohne Kontinuität nebeneinander. So erfand er eine neue Dramaturgie, die auf moderne Dramen wie die von Büchner einen großen Einfluß hatte.
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  • SHIGEMI WATANABE
    1993 Volume 90 Pages 35-45
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
    Schillers "Macbeth“ (1800) muß nicht als eine Übersetzung, sondern als eine ziemlich freie Bearbeitung, oder sogar als seine eigene Neuschöpfung bewertet werden. Denn das Stück ist vor allem "zur Vorstellung auf dem Hoftheater zu Weimar“ nach der Ästhetik der Weimarer Klassik konzipiert worden und weist deswegen einige charakteristische Merkmale auf, die man auch in Schillers späteren Dramen finden kann.
    Seit "Wallenstein“ hat Schiller außer dem Blankvers-als dem Grundvers-noch verschiedene metrische Formen und lyrische Gesänge, die die naturalistische Auffassung damals (d.h. die herrschende Tendenz damals, der Wirklichkeit getreu darzustellen) als die "Illusion zerstörenden Elemente“ abgelehnt hat, in seine Dramen eingeführt. Diese Elemente seien formale Mittel zur Verwirklichung der "poetischen Tragödie“, die sich zur Aufgabe machen solle, die Wahrheit, nicht die Wirklichkeit, darzustellen, was Aristoteles in seiner "Poetik“ als wesentliche Eigenschaft der Poesie überhaupt bestimmt hat. Schillers "poetische Tragödie“ ist also ein Versuch, die Tragödie zur Poesie im eigentlichen Sinn zu erheben, und "der letzte, der entscheidende Schritt“ (NA10, 11) dazu sei die Einführung des Chors.
    Schiller hat vom Chor erwartet, durch lyrische Gesänge dem Publikum die Übersicht über die ganze Handlung zu geben und die dem Stück zugrunde liegende Idee oder das Thema klarer herauszustellen. Dieselbe Funktion haben einige lyrische Monologe und Gesänge in Schillers späteren Dramen, und sie sind deshalb als Vorstufen des Chors anzusehen. Zu diesen werden auch die Hexenszenen in "Macbeth“, die in anderen metrischen Formen als im Blankvers verfaßt sind, gezählt. Die Szene "Ein offener Platz“ (I-1), besonders die dort von Schiller hinzugefügten Worte, zeichnen als Prolog die Handlung des Stücks im Umriß. Anschließend daran deutet die Szene "Eine Heide“ (I-4) den Prozeß der Verführung von Macbeth und die Katastrophe bildlich an. Und aus der Szene (IV-4), wo die drei Hexen Macbeth durch Erscheinungen seine Zukunft weissagen, erfährt das Publikum den Schluß des Stücks noch ausführlicher.
    Aus welcher Veranlassung hat Schiller zu dieser Zeit, gleich nach der Vollendung des "Wallenstein“, nichts anderes als den "Macbeth“ behandelt?
    Erstens hat Schiller großes Interesse an Macbeth als einem tragischen Helden gehabt, der gerade das Gegenteil von Wallenstein ist. Wallensteins Charakter ist "niemals edel“ (NA29, 17), Macbeth dagegen ist "edel“, wie in der ersten Hälfte dieses Stücks oft betont wird. Andererseits wird Wallenstein als "Realist“ bestimmt, dessen Gegenteil der "Idealist“ ist. Nach einer klärenden Erörterung in der Abhandlung "Über naive und sentimentalische Dichtung“ ist der Idealist "ein edleres Wesen“ als der Realist, aber wenn jener in den "falschen“ Idealismus gerät und bloßer "Phantast“ wird, stürzt er "in eine bodenlose Tiefe, und kann nur in einer völligen Zerstörung sich endigen“ (NA20, 501ff.). Der Untergang Macbeths, der in einer Phantasiewelt lebt, ist gerade der des Phantasten.
    Zweitens ist Shakespeares "Macbeth“ ursprünglich zur Realisierung der Idee geeignet, die Schiller damals von der Tragödie gehabt hat: Obwohl die Tragik vom Charakter des Helden herrührt, muß sich doch der starke, notwendige Anlaß von außen, d.h. "das Schicksal“, daran beteiligen,
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  • Über die Shakspearo-Manie“">Zu Grabbes Polemik "Über die Shakspearo-Manie“
    MITSUYUKI NATSUMEDA
    1993 Volume 90 Pages 46-56
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
    Schon als 16 jähriger Gymnasiast verfaßte Grabbe, frühreif, wie er war, seinen dramatischen Versuch "Theodora“. Dieses Stück, mit dem er bei Göschen in Leipzig keinen Erfolg hatte, läßt die Anregungen erkennen, die er seinem Herumlesen in zahlreichen Werken von Calderón, Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Müllner sowie von Scott, Irving, Byron u.a. verdankte. Sein größtes Vorbild war aber schon damals Shakespeare. Das bezeugen auch Briefe an die Eltern aus dieser Zeit. Der Verehrung für den englischen Dramatiker ist er sein Leben lang treu geblieben. Shakespeares Geschichtsdramen haben unleugbar auf seine Historiendramen eingewirkt, und noch 1835, ein Jahr vor seinem Tod, ließ er Immermann wissen, er beschäftige sich gerade mit der Übersetzung des 1825 entdeckten sogenannten "Ur-Hamlet“.
    Mit der Schrift "Über die Shakspearo-Manie“ wendet er sich also weniger gegen den großen Dramatiker selbst als gegen dessen Vergötterung durch den romantischen Zeitgeschmack. Insofern weist die Schrift gewisse Parallelen nicht nur zu Raupachs satirischem Lustspiel "Kritik und Antikritik“ auf, sondern auch zu Angriffen in Klingemanns dramatischen Blättern "Kunst und Natur“ oder in Goethes Aufsatz "Shakespeare und kein Ende“. Vor allem aber muß in diesem Zusammenhang auf Grabbes ambivalentes Verhältnis zu Tieck hingewiesen werden.
    Fünf Jahre vor der Veröffentlichung dieses Aufsatzes hatte Grabbe als Berliner Student sein erstes Geschichtsdrama, "Herzog Theodor von Gothland“, an Tieck nach Dresden gesandt und den damals berühmtesten Romantiker gebeten, eine deutsche Bühne dafür zu interessieren. Vom Standpunkt der von ihm vertretenen Richtung der Romantik aus verurteilte Tieck das Drama nicht weniger als den Charakter des Autors. "Zynismus“, "unpoetischer Materialismus“, "Unwahrscheinlichkeit der Fabel“, "Unmöglichkeit der Motive“-zu diesen Vorwürfen gesellten sich Urteile wie: Grabbe gehe der Sinn für "Ruhe und Behaglichkeit“ ab, zugleich neige er sich zu jever Sentimentalität, die ein charakteristisches Merkmal der "modernen“ Dichtung sei.
    Wie der Aufsatz "Über die Shakspearo-Manie“ bezeugt, war Grabbe inzwischen ein selbständiger Autor, selbstbewußt genug, auch als Kritiker öffentlich Stellung zu beziehen. Er stellt zunächst drei Fragen. 1) Wie kam es zu dieser "fashion“ gewordenen Bewunderung Shakespeares? 2) Verdient Shakespeare eine solche Bewunderung? 3) Wohin würde diese Bewunderung und vor allem die vorbehaltslose Nachfolge Shakespeares das deutsche Theater führen? Dann werden in der Richtung dieser Fragen erörtert: 1) die Geschichte der Shakespeare-Rezeption in Deutschland, 2) das Wesen der Shakespeareschen Dramatik und 3) fernere Aussichten für das deutsche Theater. Im Zusammenhang mit der ersten Frage skizziert Grabbe die verschlungenen Wege der deutschen Bühne bis zu der Stelle, da sie "eine bisher unbekannte Eigenthümlichkeit, hohe Romantik neben großer Natürlichkeit, alle Fremdlichkeiten eines ausgezeichneten ausländischen Theaters-kurz alles, wonach die neue Richtung des Zeitalters sich neigte, im Shakespeare vereinigt“ gefunden habe. Im IIinblick auf die deutsche Shakespeare-Diskussion ist die Erörterung der zweiten Frage als der Hauptteil der Schrift anzusehen.
    Bei all seiner Verehrung zögert Grabbe nicht, da zu kritisieren, wo das Werk seines großen Vorbildes-seiner Meinung nach-Mängel aufweist. Was er zu Shakespeares Vorzügen zählt, ist nicht selten gerade das,
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  • Der Fall Karl Kraus
    OSAMU IKEUCHI
    1993 Volume 90 Pages 57-65
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
    Bei der deutschen Shakespeare-Rezeption ist Karl Kraus ein Sonderfall. Ohne Englisch zu verstehen, unternimmt er es, die Dramen Shakespeares zu bearbeiten, durchzugehen und sogar die Sonette neu zu übersetzen.
    Ganz von Anfang seiner journalistischen Karriere an, war Shakespeare ihm nah; als 1902 ein Ehebruchsprozeß durch die Sensationspresse in den Schmutz gezogen wurde, erschien in der "Fackel“ der Essay "Sittlichkeit und Kriminalität“, darin schrieb er lakonisch, "Shakespeare hat alles vorausgewußt“. Seither kehrt Karl Kraus immer wieder bei Shakespeare ein, nimmt ihn in seine Vorlesungen auf, und Shakespeare wird für Kraus zur letzten Instanz in Fragen der doppelten Moral der Zeit. Die Polemik der "Fackel“ entzündet sich überhaupt an den Theateraufführungen des neuen Burgtheaters und an den neuen Bearbeitungen und Übersetzungen. Dem ersteren setzt Kraus sein "Theater der Dichtung“ entgegen, dem letzteren eine Ausgabe der Dramen "für Hörer und Leser bearbeitet, teilweise sprachlich erneuert“. Es ergibt sich daraus das Bild eines Nachdichters, der fähig ist, in der eigenen Sprache zu dichten, aus der Übersetzung eine Dichtung zu machen, mit wenigen Änderungen die Szenen von "King Lear“ oder "Macbeth“ auf eine aktuelle Affäre umzumünzen.
    Von nun an greift Kraus zu dem Mittel, mit Shakespeare-Zitaten Ereignisse zu kommentieren und glossieren. Er lebt so sehr in der Welt Shakespeares, daß sich ihm immer wieder Parallelen zwischen Gegenwart und Shakespeare-Situationen aufdrängen. Die Paradoxie der Zeit wollte es, daß gerade das Übermächtigwerden des Ungeheuers namens "Nazi“ ihn dazu trieb, sich am tiefsten in die Welt Shakespeares zu versenken. Einer der letzten Briefe von Kraus charakterisiert die Bedeutung, die Shakespeare für ihn besaß: "Die Weltdummheit macht jede Arbeit-außer an Shakespeare-unmöglich.“
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  • SOGO TAKAHASHI
    1993 Volume 90 Pages 66-75
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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    "Die Shakespeare-Rezeption bei Brecht“ ist für Brecht-Forscher ein faszinierendes, aber zugleich schwer zu behandelndes Thema, weil sich Brecht mit Shakespeare sein ganzes Leben lang beschäftigt und seine Shakespeare-Rezeption viele verschiedene Aspekte aufzuweisen hat. Die Shakespeare-Rezeption, die sich in seinen Stücken niedergeschlagen hat, erstreckt sich von Entlehnungen und Parodien einzelner Repliken über Entnehmungen der Szenen- und Stückkonzeption bis zur Bearbeitung ganzer Stücke. Auch hat Brechts Shakespeare-Rezeption viel mit seiner Theorie des Theaters und der Schauspielkunst zu tun; anhand der Szenen aus Shakespeares Stücken erklärt Brecht oft seine Theatertheorie; Brecht hat "Übungsstücke für Schauspieler“ geschrieben, denen einige Szenen aus Shakespeares Stükken als Vorlage dienen. Das letztere bedeutet: Brecht hat geglaubt, daß auch Shakespeares Stücke mit der epischen Schauspielkunst aufgeführt werden können und daß sie die epische Schauspielkunst auf die Probe stellen. Außerdem hat sich Brecht in den zwanziger Jahren in die Debatten über die Klassiker-Bühne eingelassen, was teilweise zur Entstehung seines epischen Theaters beiträgt und in den dreißiger Jahren einen großen Einfluß auf seine Stücke ausübt.
    Die Shakespeare-Rezeption bei Brecht, die eine solche Vielfältigkeit aufweist, wirft aber grundlegende methodische Probleme auf, die bis jetzt ungelöst bleiben. Was die Rezeptionsforschung betrifft, gibt es zwei Methoden: eine rezeptionsgeschichtliche und eine rezeptionsästhetische. Die rezeptionsgeschichtliche Methode befaßt sich in erster Linie mit der Bewertung rezipierter Dichter oder Werke. Bei Brechts Shakespeare-Rezeption geht es aber nicht nur um seine Bewertung Shakespeares, sondern vor allem darum, wie sich Brecht Shakespeares Repliken, Szenenkonstruktionen, Konfigurationen der dramatis personae, Stücke etc. angeeignet und in seinen eigenen Stücken verwendet hat. Da läge nahe, daß die Rezeptionsästhetik besser helfen könnte. Aber die Rezeptionsästhetik, die sich mit der Wechselwirkung zwischen dem, was ein Kunstwerk an Thema, Gehalt und Form anbietet, und dem Erwartungshorizont sowie der Verständnisbereitschaft des Rezipienten befaßt, kann die mehr als dreihundert Jahre, die zwischen Shakespeare und Brecht liegen, nicht so einfach überbrücken.
    Handelt es sich denn in Brechts Bearbeitung von Shakespeares "Coriolan“ und seinem Stück "Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ um eine Rezeption? Es liegt auf der Hand, daß es in beiden Stücken nicht um seine Bewertung Shakespeares geht. Daß Dichter oder Regisseure ein Stück bearbeiten oder verändern, um es dem Publikum näher zu bringen, bedeutet nicht, daß sie es schlecht bewerten. Sondern die Bearbeitung oder Veränderung eines Stückes besteht vielmehr darin, das Lebendige vom Toten am Stück zu unterscheiden und herauszuarbeiten. In diesem Sinne ist es unvermeidbar, daß die Bearbeitung eine Verdrehung darstellt, falls man sie vom Originalstück her bewerten will. Aber hat die Bearbeitung dem Original gegenüber nicht ihr eigenes Recht? Besonders im Fall der Bearbeitungen von Shakespeares Stücken? Weil fast alle seine Stücke bekanntlich Vorlagen haben und diesen gegenüber schon Bearbeitungen darstellen.
    Z.B. in Shakespeares "Coriolan“ ist als Ursache für den Aufstand der Bürger der hohe Kornpreis genannt, der aber bei Plutarch nie erwähnt ist. Nach Plutarch ist es nicht der Kornpreis, sondern die Wucherei der Gläubiger, die Roms Bürger zum Aufstand getrieben hat. Der Grund für Shakespeares Bearbeitung ist wohl darin zu suchen,
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  • Zur Shakespeare-Rezeption von Heiner Müller
    AKIRA ICHIKAWA
    1993 Volume 90 Pages 76-87
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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    1. Shakespeare und Heiner Müller haben die Gemeinsamkeit, daß ihre Stücke fast immer auf Motive und Sujets ihrer Vorlagen zurückgehen oder häufig aus anderen Stücken hervorgegangen sind. Müllers Dramatik greift wie die Shakespeares immer wieder auf frühere Modelle zurück. Seine Stücke können als "Übermalungen“ seiner älteren Arbeiten gelesen werden.
    Die Geschichte des deutschen realistischen Theaters ist zum großen Teil die Geschichte einer Aneignung Shakespeares. Peter Hacks z.B., der größte Rivale Müllers in der Ex-DDR, sieht gerade diesen in der Nachfolge des englischen Dramatikers, wenn er etwa die Verse des "Umsiedlerin“-Fragments hochschätzt und allgemein Müllers Gebrauch des Blankverses für literarhistorisch überaus wichtig hält.
    Müllers produktive Shakespeare-Rezeption ist am deutlichsten an seiner "Macbeth“-Bearbeitung, an "Anatomie Titus Fall of Rome“ und an der "Hamletmaschine“ zu erkennen.
    2. Zur "Macbeth“-Bearbeitung. Shakespeare lebte in der Epoche des Umbruchs vom mittelalterlichen Feudalismus zum bürgerlichen Kapitalismus, also am "Riß“ zweier Epochen. Daher gibt es "kaum ein Stück von Shakespeare, in dem Politik ausgeklammert wäre“ (S. Melchinger). Shakespeares Welt: ein Totentanz auf der Bühne der Politik; und gerade auf die Dialektik von Tod und Politik richtet Müller seine Aufmerksamkeit.
    Müller: "Man kann ziemlich viel über Stalin mit, Macbeth‘ sagen.“ Für ihn ist Macbeth eben Stalin, gehören der edle Duncan und der Perestroikamann Malcolm-wie Macbeth-zur Mörder-Clique; er reißt ihnen die noblen Masken herunter. Blutige Machtkämpfe folgen ununterbrochen aufeinander; kein Hoffnungsschimmer, keine bessere Zukunft in Sicht. "Mit Messern in das Messer ist die Laufbahn.“ "Ich gab den Toten Tote zur Gesellschaft“: Die Finsternis der Welt wird in solchen Sätzen durch das Polyptoton nur noch stärker hervorgehoben.
    Bei Müller treten Bauern auf, die bei Shakespeare keine Rolle spielen. Mit der Darstellung dieser wendehalsigen, heuchlerischen Unterdrückten und mit politischen Vokabeln von heute wie, Staat‘, , Staatsschatz‘, , Kommando‘, , Macht‘ verändert sich Shakespeares feudale Welt in unsere gegenwärtige Situation.
    3. Zu "Anatomie Titus“. Die Parole "Der Wolf kommt aus dem Süden“ charakterisiert Müllers Interesse für die Probleme der Dritten Welt. Müller, der auf die Dritte Welt "wartet“, bearbeitete 1984 "Titus Andronicus“ als ein Nord-Süd-Stück. Shakespeares Rom steht hier für die Erste Welt, das weiße Europa und das (noch) übermächtige Amerika, während die Goten und der "Neger“ Aaron, die aus Steppen und Wäldern hergeschleppt wurden, die Dritte Welt repräsentieren.
    Müller findet den ersten Akt bei Shakespeare "langweilig und unerträglich“; er läßt ihn einfach erzählen, fügt in den Bericht Dialogpartien, Kommentare und Exkurse ein. In Müllers Hinzufügungen vertritt er die Sache der Dritten Welt. Schon im Exkurs der ersten Szene wird der Untergang der Ersten Welt angedeutet. Auf Shakespeares Happyend-Schluß, die Heimkehr des "Retters“ Lucius und den Jubelruf "Es lebe wohl Rom“, folgt bei Müller die "Wüste“ der Nachwelt. Obwohl die Goten von Lucius vertrieben wurden, besiegen sie mit Hilfe der toten Neger die Hauptstadt der Welt.
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  • Der Park“ von Botho Strauß">"Der Park“ von Botho Strauß
    ITARU TERAO
    1993 Volume 90 Pages 88-97
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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    Im Wörterbuch wird die Bedeutung des Wortes "Lust“ immer zuerst als "Bedürfnis“ oder "Vergnügen der Erfüllung“ erklärt und dann die Sexualität als einer der besonderen Fälle vieler Bedeutungsmöglichkeiten angeführt. Nach Grimms Wörterbuch stammt jedoch die älteste Bedeutung der "Lust“ aus "dem mit der thierischen natur zusammenhängenden trieb“, und die anderen seelischen und geistigen Bedeutungen erscheinen erst später. Wir können also sicher annehmen, daß in der Bedeutungsreihe die natürlichste sexuelle Begierde zuerst hervorgehoben werden sollte. Aber in der modernen Gesellschaft ist uns die älteste Bedeutung der Lust immer weiter verloren gegangen. Unsere Vernunft unterdrückt nämlich die Besonderheit der ursprünglichen Lust unter das allseitig gemeinsame Bedürfnis, also in die Form oder Struktur der Verallgemeinerung selbst. Im Drama "Der Park“, 1984 uraufgeführt, geht es darum, die Möglichkeit oder den Verlust der ältesten Lust in der jetzigen Zeit zu suchen.
    In der Vorrede von "Der Park“ behauptet Strauß, hier im Drama das "Aufwachen“ nicht so wie im "Sommernachtstraum“ finden zu können, abet auch in unserer "tüchtigen“ Gesellschaft den Taumel des Kunstwerks nut in der Konjunktivform, nur negativ suchen zu können. Strauß sieht kein "Aufwachen“ auf der jetzigen Bühne, abet in der Wirklichkeit gibt es den Taumel nicht mehr. Beim "Park“ handelt es sich um die Beziehung zwischen der triebhaften Aufforderung der Lust in der mythischen Welt und den versteinerten Leiden durch den Verlust der Liebe in der wirklichen Welt. Diese Zweiseitigkeit, sowohl die Allegorik der andeutenden Bühne als auch die nüchterne Beobachtung der Wirklichkeit, kann man auch beim Lesen seiner anderen Dramen immer leicht finden. Dieses Nebeneinanderstellen des Mythos und der Wirklichkeit ist im "Park“ fast auf jeder dramaturgischen Ebene, also der Handlung, des Bühnenraumes oder des Dialogs zu entdecken, und in der konkreten Form zwei wichtiger Inszenierungen des "Parkes“ in München und Berlin auch.
    Aber im Vergleich mit Shakespeare zeigt uns diese Zweiseitigkeit, wie sich in diesen vierhundert Jahren die Situation der Vernunft verändert hat. Im "Sommernachtstraum“ gibt es wohl "Aufwachen“. Aber woraus und wohin? Die Dramenfiguren wachen auf aus dem mythischen Traum -in die Wirklichkeit, aus dem natürlichen Trieb-in die menschliche Vernunft, also aus dem ringsum die Stadt umgebenden uralten Wald -nach Athen, dem kleinen Ort der Vernunft. Aber in "Der Park“, um den herum sich nur die künstlichen Neonlichter und modernen Hochhäuser befinden, kann die Natur nur mit menschlicher Hilfe, vernünftiger Pflege wachsen. Der Zusammenhang zwischen der uralten Natur und der menschlichen Vernunft ist mit der Zeit völlig umgeschlagen.
    Shakespeares Behauptung des "Aufwachens“ bedeutet die Entstehung der Vernunft am Anfang der modernen Zeit. Strauß' Behauptung, kein "Aufwachen“ zu finden, bedeutet die umgekehrte Möglichkeit am Ende der modernen Zeit. Unsere Gesellschaft, die in die Entzauberung so tief verschlungen ist und alle Taumel "tüchtig“ nur verweigert, kann aber doch auch jetzt den Fern der Liebesbeziehungen, also die uralte Lust und den Verlust der Liebe, nicht freiwillig aufwachen lassen. Auch das Kunstwerk ist in der modernen Zeit viel tiefer entzaubert worden als in der Zeit Shakespeares.
    Aber die Aufgabe, Lust und Verlust der Liebe im Taumel,
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  • MICHIKO ISHII
    1993 Volume 90 Pages 98-107
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
    Der, Parzival‘-Dichter Wolfram von Eschenbach nimmt auch als Liederdichter einen bedeutenden Platz in der deutschen Literaturgeschichte ein. Die Mehrzahl seiner Lieder gehört zur Gattung des Tagelieds. In ihnen führt er die Wächterrolle aus dem altprovenzalischen Tagelied, der alba, in die deutsche Minnelyrik ein.
    In dem Lied "Der helden minne ir klage…“ (MF4), dem sogenannten Anti-Tagelied, befiehlt er dem Wächter, zu schweigen, und preist die gefahrlose eheliche Liebe. Es wurde bisher entweder als ein moralisierendes Gedicht oder als eine Parodie verstanden.
    Im vorliegenden Aufsatz wird der Text zunächst unter stilistischen und syntaktischen Gesichtspunkten untersucht. Dabei zeigt sich, daß Wolfram diesem Lied das Grundmuster seiner anderen Tagelieder unterlegt hat. Das eröffnet eine neue Möglichkeit, seine Kritik an der Tagelied-Situation zu interpretieren.
    Die Situation des Tagelieds ist der "Tristan“-Situation ähnlich, d.h. die verbotene Liebe kann nur im Verborgenen, im Wald, in der "Minnegrotte“ oder bei Nacht in einem kleinen Zimmer, wo alle außer den beiden Liebenden ausgeschlossen sind, Erfüllung finden. In diesem Zusammenhang tritt der Wächter auf, der die Liebenden schützt und zugleich-als Warnender-die gesellschaftliche Moral vertritt. In dieser Funktion der Figur kann man den sozialen Aspekt der Liebe bei Wolfram erkennen. Der Dichter muß für die Liebenden eine ideale Szene schaffen, weil Liebe in der realen Gesellschaft unmöglich sei, obwohl sie eigentlich ein soziales Moment habe. In Wolframs Tageliedern wird also die Problematik von Liebe und Gesellschaft-wenn auch indirekt-angedeutet.
    In dem Lied MF4 soll der Wächter abtreten. Damit wird die Möglichkeit eines solchen fiktiven Paradieses verneint und die Frage aufgeworfen, ob es wahre Liebe nicht auch in der Realität des Ehelebens geben könne.
    Das tatsächliche Verhältnis von Ehepartnern in der mittelalterlichen adligen Gesellschaft war bekanntlich ganz anders, als es die idealisierende Darstellung in den höfischen Dichtungen vermuten läßt. Die Ehe galt primär als eine politische Institution, ihr Zweck war weniger Liebeserfüllung als die Fortsetzung des Geschlechts. Ehe und Liebe scheinen in dieser Konstellation kaum vereinbar zu sein. Anderseits gait die höfische Liebe als sozialutopisches Ideal. Die Minnelyrik, die man als "Ehebruchspoesie“ charakterisiert hat, besingt meist die seelische Liebe, jene hohe minne, welche die gesellschaftliche Ordnung nicht störte. Dagegen wird in Wolframs Tageliedern auch das erotische Moment durchaus betont.
    Vor diesem Hintergrund könnte man folgern, MF4 enthalte eine Kritik am Tagelied, insofern hier Liebeserfüllung nur unter fiktiven Bedingungen und nur in einer "unerlaubten“ Beziehung möglich sei. Liebe in der realen Welt wie auch in der fiktiven Situation in den Minneliedern erscheint als unvollkommen. Wolframs Ideal ist, wie es scheint, die Verwirklichung der Liebe trotz ihrer Widersprüchlichkeit. Das würde aber eine Kritik der "hohe minne“ bedeuten, die, will sie beständig sein, paradoxerweise ewig unerfüllt bleiben muß.
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  • YOSHIHIRO YOSHIDA
    1993 Volume 90 Pages 108-118
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
    Meine These: Franz Kafkas Erstes Leid ist eine metafiktionale Erzählung in dem Sinn, daß sie mit ihrer Handlung und Formulierung ihren Entstehungsprozeß selbst darstellt.
    Malcolm Pasley will in seinem Beitrag "Der Schreibakt und das Geschriebene. Zur Frage der Entstehung von Kafkas Texten“ deutlich machen, daß bei Kafka merkwürdige Beziehungen zwischen den Besonderheiten der von ihm gewählten Schriftträger und den darauf niedergelegten Erzählinhalten bestünden. Als Beispiel solcher Besonderheiten der Schriftträger zieht er ein Papierblatt heran, "das er (sc. Kafka) später einmal vor sich hinlegte, um darauf mit winzigsten Schriftzügen sein Erstes Leid zu schreiben-sich damit gleichsam den knappsten Exerzierplatz anweisend für seine schwierigen und beängstigenden schriftstellerischen Turnkunststücke, welche diese kleine Geschichte darstellt und zugleich in sich selbst, als Schreibakt, verkörpert“. Meine Arbeit hat die Absicht, diese allgemeine, gleichnishafte Bemerkung von Pasley detailliert am Text zu belegen und zu ergänzen.
    Die Erzählung Ersles Leid ist auf einem einzigen Papierblatt, das ja bei ihrer Niederschrift als die wichtigste konkrete Schreibbedingung im Sinne von Pasley funktionierte, geschrieben. Daß nicht nur das Blatt verhältnismäßig klein ist, sondern auch die Fläche des Blattes ein begrenzter Raum ist, ist sehr wichtig, weil der Schriftsteller auf ihm so nur eine bestimmte Quantität seines Textes niederschreiben kann. Auf einem leeren weißen Blatt schrieb Kafka, oben links auf der Recto-Seite beginnend, seine Federspitze schaukelnd führend, seinen Text mit schwarzer Tinte bis unten zur rechten Ecke, und dies, ohne irgendeinen Rand zu lassen. Um den Text fortzuschreiben, mußte er das Blatt unvermeidlich umkehren. Er setzte dann seine Feder auf der Verso-Seite wieder oben an und schrieb weiter. Diese sachlichen Verhältnisse haben eine wesentliche Bedeutung für den Inhalt der Erzählung.
    Um der Analyse willen gliedere ich die Erzählung in zwei Teile. Der auf der Recto-Seite geschriebene Text (vom Anfang bis etwa zur Mitte des Satzes "für die Fahrten in den Städten benützte man Rennautomobile, mit denen man…mit letzter Geschwindigkeit jagte“) mache den 1. Teil aus, während der Text der Verso-Seite den 2. Teil bilden soll.
    Daß der Trapezkünstler den Text oder die ihn schreibende Federspitze bedeutet, geht aus den Stellen hervor, an denen er auf den beiden Seiten des Blattes genannt ist, und aus der Art, in der er sich fortbewegt. Am Anfang bleibt ja der Trapezkünstler (der entstehende Text auf dem Manuskriptblatt oder die schreibende Spitze) hoch oben in den Kuppeln (auf der Seite oben, in den Kuppelungszeichen), dann kommt er auf dem schaukelnden Trapez (mit den Zeilen des Textes oder der Federspitze) allmählich, aber notwendig bis zum Boden (auf der Seite unten) herunter. Der Künstler muß die unvermeidlichen Reisen von Ort zu Ort (von der Recto-Seite zur Verso-Seite) machen. Am Anfang des 2. Teils der Erzählung bleibt er nochmals in einem Kupee oben im Gepäcknetz (i.e. die variierte Formulierung von "hoch in den Kuppeln, auf dem Trapez“ im gleichen Topos auf der Seite), und im nächsten Gastspielort (auf der Verso-Seite) hängt er wirklich wieder oben an seinem Trapez (auf der Seite oben). Auf der Reise zum nächsten Ort sags der Trapezkünstler, er wolle das zweite Trapez haben. Es bedeutet in der Metaphorik dieser Erzählung das zweite Papierblatt, darauf der Text fortgeschrieben worden wäre. Die Erzählung endet aber unterwegs,
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  • HANS-OTTO RÖSSER
    1993 Volume 90 Pages 119-128
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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  • MASAHIRO NAYA
    1993 Volume 90 Pages 129-139
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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    In der vorliegenden Arbeit wird eine umstrittene Konstruktion untersucht, die u.a. als Funktionsverbgefüge bezeichnet wird. Zwischen der semantischen Struktur solcher Gefüge und der der Grundverben besteht anscheinend eine regelhafte Beziehung. Das Ziel meiner Untersuchung ist es, in positiven Verfahren aufzuzeigen, aus welchen semantischen Strukturen des Grundverbs diejenigen des Funktionsverbgefüges generiert werden. Der Gegenstand meiner Untersuchung ist also der Regelmechanismus bei der Generierung von Funktionsverbgefügen.
    Morphologisch lassen sich zwei Gruppen von Funktionsverbgefügen unterscheiden, je nachdem, ob das Nomen actionis als Präpositionalobjekt oder als Akkusativobjekt auftritt. Vergleichen wir aber die Anordnung der Semantik bei den Grundverben mit der in den Funktionsverbgefügen, dann lassen sich drei Typen von Gene rierungsmustern feststellen.
    1 Die Stellung der Glieder wird beibehalten:
    Er schwitzt. → Er kommt ins Schwitzen.
    2 Die Stellung der Glieder wechselt:
    Er führt den Plan aus. → Der Plan kommt zur Ausführung.
    3 Ein neues Glied wird angefügt:
    Er arbeitet. → Sie bringt ihn zum Arbeiten.
    Für jedes Muster gibt es nun semantische Restriktionen, denen die Generierung von Funktionsverbgefügen unterliegt. Aus dem intransitiven Grundverb arbeiten z.B., das die semantische Struktur [Tätigkeit] aufweist, lassen sich keine Funktionsverbgefüge mit dem Präpositionalobjekt *zum Arbeiten kommen generieren. Aus dem transitiven Grundverb benutzen hingegen, welches das semantische Merkmal [Tätigkeitbezogenheit] aufweist, lassen sich keine Funktionsverbgefüge mit dem Akkusativobjekt *Benutzung finden bilden. Aus dem transitiven Grundverb ausführen schließlich läßt sich kein Funktionsverbgefüge mit dem Präpositionalobjekt *jmdn. zur Ausführung des Plans bringen entwickeln.
    Eine Klärung dieser Restriktionen läßt ein System der Generierung von Funktionsverbgefügen sichtbar werden, das ich an Beispielen aufzuzeigen versuche.
    Aus einem intransitiven Grundverb mit der semantischen Struktur [Zustandsveränderung] lassen sich nach Muster 1 Funktionsverbgefüge mit der gleichen semantischen Struktur generieren, z.B. schmelzenzum Schmelzen kommen, nach Muster 3 dagegen Funktionsverbgefüge mit der Struktur [Kausativ]+[Zustandsveränderung], z.B. schmelzenzum Schmelzen bringen.
    Aus einem transitiven Grundverb mit der semantischen Struktur [Zustand] lassen sich nach Muster 2 Funktionsverbgefüge mit der semantischen Struktur [Zustandsveränderung] generieren, z.B. kennenzur Kenntnis kommen, nach Muster 3 indessen Funktionsverbgefüge mit der Struktur [Kausativ]+[Zustandsveränderung], z.B. kennenin Kenntnis setzen.
    Somit werden Funktionsverbgefüge weithin ziemlich regelmäßig generiert. Meine Arbeit ist ein Versuch, diesen Regelmechanismus deutlich zu machen.
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  • Einführung·Grundbegriffe Deutsch in der frühbürgerlichen Zeit
    [in Japanese]
    1993 Volume 90 Pages 140-142
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
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  • Literatursprache, Alltagssprache, Gruppensprache, Fachsprache. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hug
    [in Japanese]
    1993 Volume 90 Pages 143-145
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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  • Hennig Brinkmann in der Diskussion. Zu seinem neunzigsten Geburtstag
    [in Japanese]
    1993 Volume 90 Pages 145-148
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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  • [in Japanese]
    1993 Volume 90 Pages 148-150
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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  • [in Japanese]
    1993 Volume 90 Pages 151-153
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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  • [in Japanese]
    1993 Volume 90 Pages 153-155
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
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  • Deutsche Aufklärung und Romantik in der japanischen Germanistik
    [in Japanese]
    1993 Volume 90 Pages 156-158
    Published: March 01, 1993
    Released on J-STAGE: March 28, 2008
    JOURNAL FREE ACCESS
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  • 1993 Volume 90 Pages 249
    Published: 1993
    Released on J-STAGE: January 30, 2009
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  • 1993 Volume 90 Pages 295e
    Published: 1993
    Released on J-STAGE: January 30, 2009
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  • 1993 Volume 90 Pages 295d
    Published: 1993
    Released on J-STAGE: January 30, 2009
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  • 1993 Volume 90 Pages 295f
    Published: 1993
    Released on J-STAGE: January 30, 2009
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  • 1993 Volume 90 Pages 295b
    Published: 1993
    Released on J-STAGE: January 30, 2009
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  • 1993 Volume 90 Pages 295a
    Published: 1993
    Released on J-STAGE: January 30, 2009
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  • 1993 Volume 90 Pages 295c
    Published: 1993
    Released on J-STAGE: January 30, 2009
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  • 1993 Volume 90 Pages 295g
    Published: 1993
    Released on J-STAGE: January 30, 2009
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