Abstract
Die Schwierigkeiten, auf die man beim Verstehen der Gedanken von Karl Kraus oft stößt, können neben der sachlichen Akribie wahrscheinlich vorwiegend seiner Ambivalenz zugeschrieben werden, die er selbst einen "Widerspruch“ zwischen einem "Revolutionär“ als einem radikalen Kritiker und einem "Reaktionär“ als einem konservativen Ästhetiker nennt. Aber in der Kraus-Forschung oder im allgemeinen Kraus-Bild ist eine Tendenz zu beobachten, Kraus eher als einen radikalen Zeitkritiker anzusehen oder auf seine radikale Seite den Schwerpunkt zu legen, selbst wenn seine konservativen Eigenheiten behandelt werden. In disesem Zusammenhang geht es in diesem Aufsatz darum, hauptsächlich anhand seines Begriffspaares "Technik“ und "Natur“ seine konservativen, "irrationalen“ Eigenheiten hervorzuheben, die ich als Grundlage seines Denkens begreife.
Seine "reaktionären“ Positionen kulminieren in der Vorkriegszeit. Während sie sich in seinen politischen Äußerungen nur auf diese Zeit beschränken, behält Kraus die kulturkonservativen Neigungen lebenslang bei. Sein Kulturkonservatismus zeigt sich einerseits als eine grundsätzliche Abneigung gegen "Technik“, "Zivilisation“ und "Fortschritt“, andererseits als die Sehnsucht nach der "Natur“, dem "Ursprung“. Der Ursprungsbegriff bei Kraus meint aber nicht nur die Natur als eine ursprüngliche Welt, die der Technik oder der Zivilisation entgegengesetzt wird, sondern er umfaßt auch einen für Kraus utopischen Zustand im Bereich des "Geschlechts“ und der "Sprache“, mit denen er sich auch intensiv beschäftigte. In seiner Auseinandersetzung mit der bürgerlichen "Doppelmoral“ geht es nämlich nicht nur um die ethische Kritik an der Heuchelei in der Sittlichkeit, sondern auch um die ästhetische Verteidigung oder sogar Verehrung der weiblichen "Sinnlichkeit“ als "Natur“ der Frau; als Grundlage seiner Sprachauffassung gilt die Hingabe eines Dichters an die Sprache im ursprünglichen Zustand ("Gedicht“). Seine Zeitkritik, wie Moral-, Presse-, und Fortschrittskritik kommt also deshalb zustande, weil die von ihm als "Übel“ betrachteten Phänomene der Zeit aus der Entfernung bzw. dem Abfall vom "Ursprung“ stammen, der als die übergeordnete Einheit von "Sinnlichkeit“, "Gedicht“ und "Natur“ verstanden werden kann.
In den kritischen Einstellungen Kraus' zum "Materialismus“, zur "Technik“, durch die sich die Essays in dieser Periode auszeichnen, sind aber verschiedene Motive wahrzunehmen. In dem Band <Die chinesische Mauer>, der Essays und Glossen aus den Jahren 1907-10 enthält, geht es noch nicht deutlich um eine grundsätzliche Kritik am Fortschrittsgedanken selbst; vielmehr tritt die Satire gegenüber der in Wien typischen Denk- und Verhaltensweise, der als fortschrittlich geltenden "Dummheit“, in den Vordergrund. Sie vertieft sich aber in seiner Schrift <Untergang der Welt durch schwarze Magie>, deren Essays meistens zwischen 1908 und 1914 entstanden sind, bis zur Kritik an der Ideologie der Moderne, mit der man im Zeichen der Technik oder des Fortschritts die Natur zu "erobern“ versuchte. In dieser Phase verbindet sich seine Kritik an der Eroberung der Natur zugleich mit seinen Angriffen auf die andere "Anmaßung“ der Menschen im Bereich des Geschlechts sowie der Sprache: