In der Büchner-Preis-Rede vom September 1980 sprach Christa Wolf, Büchner zitierend, vom Schicksal der Frauen als Objekt und von der uns drohenden atomaren Krise, die nach ihrer Meinung von der männlichen instrumentalen Rationalität herbeigeführt wurde, und erwähnte dabei Kassandra, jene mythische Prophetin, der niemand glaubte. Diese Preis-Rede wurde ein Wendepunkt Wolfischer Literatur, denn sie, die seit
"Christa T.“ besonders die Selbstverwirklichungsmöglichkeit der Menschen thematisierte, begann in den 80er Jahren über die Angst vor dem atomaren Krieg und die Vernichtung der Menschheit zu schreiben und zu sprechen. In diesem Aufsatz über Wolfs Kassandra möchte ich aufzeigen, wie sie einen griechischen Mythos entgöttert und dann eine aktuelle, menschliche Geschichte gleichsarn, herauserzählt‘.
1. Krieg
Nach der Überlieferung des griechischen Mythos soll der Anlaß zum troianischen Krieg ein Zank von drei Göttinnen um den Erisapfel gewesen sein. Aber Wolf will eine andere Wirklichkeit hinter der Überlieferung beschreiben, so sei z.B. das wirkliche Ziel des Kriegszugs der Achaier der Zugang zum Hellespont gewesen. Jene
"schöne Helena“, die von Paris geraubt wird, bleibt nur eine
"Verschleierung der Tatbestände“, ein Phantom, und das Beharren des troianischen Palasts auf seiner Behauptung:
"Helena ist in Troia“ führt unausweichlich zum Krieg. Wolf beschreibt, wie der Sprachkrieg (die Kontrolle der Wörter) vor dem Krieg beginnt. Sie verliert kein Wort über den Zank der Göttinnen, in ihrem Werk sind die Menschen verantwortlich für den Krieg und sie sind nicht mehr Figuren im Spiel der Götter. Nur können sie vom instrumentalen Denken nicht mehr loskommen.
Die Helden des Homerischen Epos werden bier als vom
"Nützlichkeitswahn Besessene“ bezeichnet, so etwa Achill, der von Kassandra immer
"das Vieh“ genannt wird. Diese Gestalt von
"Achill dem Vieh“ zeigt aber am deutlichsten die Existenz eines modernen Menschen, dem es nicht gelungen ist, Subjekt zu werden. Die berühmten Helden wie Hektor, Paris, Agamemnon werden hier alle
"entheroisiert“. Nur Anchises und sein Sohn Aineias bleiben
"Wunschbilder“, aber sie leben doch auch unter dem Einfluß des Krieges. Das utopische Zusammenleben von Kassandra mit Anchises und anderen Frauen im Ida-Berg ist deshalb keine lebbare Alternative für sie.
2. Sehergabe
Christa Wolf denkt Kassandra
"frei von einem Gottesfluch“ und ihre Sehergabe weder als Gabe noch Strafe von Apollon, wie es bei Aischylos oder H. E. Nossack der Fall ist. Kassandra selbst strebt nach der Sehergabe, zuerst als ein Mittel, mit dem sie über andere Menschen Macht ausüben kann. So strebt sie auch nach der Stelle der Priesterin und erreicht dieses Ziel, weil sie Priamos' Lieblingstochter ist. Die Nacht vor der Weihe als Priesterin träumt sie von Apollon, der ihr im Traum die Sehergabe verleiht und sich dann in einen Wolf verwandelt. In diesem Traum beginnt für sie schon die Entgötterung Apollons und sie
"erträumt“ die Sehergabe in Wahrheit nicht, und sie sieht nach dem Traum nicht viel als Priesterin (
"Mit der Sehergabe überfordert, war ich blind.“). Als ein normaler Mensch lernt sie die Zukunft sehen durch die Betrachtung der Wirklichkeit im Palast, der Menschen um sie und ihrer selbst. Sie sieht das inhaltlose Ritual im Heiligtum und die bestellten Orakel für den Palast, und dadurch sieht sie die Götter als
"Abbilder“ der Leute, die sich selbst nicht zu sehen wagen. So wird sie durch das Erhalten der Sehergabe von allem Götterglauben befreit. Und gleichzeitig erreicht sie eine Autonomie,
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