Bemerkenswerte Arbeitstagungen über Rudolf Borchardt fanden 1985 in Pisa und 1991 in München statt. Beide Male ging es unter anderem darum, ob und inwieweit das von ihm dargestellte europäische Universalreich, dessen Idee im 12. Jahrhundert von Pisa ausgegangen sei, eigentlich zu verifizieren ist. Borchardts Idee trifft in gewisser Hinsicht mit der Neubewertung der mittelalterlichen Politik und Kultur zusammen, die in den letzten zwanzig Jahren in der Geschichtswissenschaft gefördert worden ist. Sie steht außerdem unter dem Aspekt der aktuell gewordenen politischen Einheit Europas in einem neuen Licht. Es ist wohl an der Zeit, den Stellenwert dieses beispiellosen Schriftstellers aus heutiger Sicht klarzumachen, indem wir ausloten, was das Land Italien für ihn bedeutet hat.
Die Stadt Pisa stellt Borchardt gerade zu dem mittelalterlichen Zeitpunkt dar, wo sie gegen Florenz eine eigene Stellung einnahm. Wie er schildert, kchrte sie der Hauptstadt den Rücken zu und sah immer über das Meer, das vor ihr liegt, weit in die Welt hinaus. Pisa habe den Plan geschmiedet, dem politischen Konzept der Stauferkaiser entsprechend ein von Sizilien über die Provence bis Schwaben reichendes Universalreich zu gründen. Der Traum der Pisaner sei bald zerschmolzen. Borchardt bezieht aber in seine Analyse des mittelalterlichen Reichsgedankens seine utopische Vorstellung über die Zukunft Europas mit ein.
Im Essav
"Villa“ geht es um die Lebensweise und Agrarverwaltung der Toskaner, die in den traditionellen Villen lebten. Die Villenbewohner, d.h. die Grundbesitzer, hätten in gemeinschaftlichem Lebensgefühl mit ihren Pächtern zusammengearbeitet. Der Bau der Villa sei praktisch und bescheiden gewesen. Sie fügte sich in die Natur der Umgebung ein. Dies alles wird von Borchardt kontrastiert mit den auffälligen deutschen Villen, die seit der Gründerzeit von Neureichen bzw. von Rentnern gebaut wurden und der Umgebung fremd waren.
Borchardt unterscheidet zwischen
"Neudeutschland“ und
"Altdeutschland“. Das letztere, das vom Mittelalter bis zur Goethezeit dauerte, sei geeignet gewesen, die europäische Kulturtradition in sich aufzunehmen und zu überliefern. Dagegen konnte er das erstere, nämlich Deutschland im Wilhelminischen Zeitalter, wegen dessen nationalistischer Selbstgefälligkeit nicht ertragen. Eine Hoffnung bedeutete für ihn nur, daß er Hofmannsthal und George als Gleichgesinnte entdeckte. Und Dante hielt er für eine Vermittlerfigur für eine künftige lateinisch-germanische Kulturfusion. Italien bot ibm eine Zuflucht, in der er von
"Neudeutschland“ entfernt mit Dante ein alt-neues Reich konzipieren konnte.
Es gibt wohl noch einen Grund dafür, daß Borschardt lange in Italien lebte. Er war zwar als Jude geboren, lehnte es jedoch ab, Jude zu sein. Seine Familie war schon assimiliert, und er bildete sich als legitimer Träger der humanistisch-klassischen Kulturtradition aus. Wenn man ihn an seine jüdische Herkunft erinnerte, so war dies für ihn stets ein innerer Schlag. Er betonte immer wieder, mit der Nation beginne die Geschichte, während die Rasse noch vorgeschichtliches Chaos sei. Andrerseits aber gibt es auch Zeugen dafür, daß seine Leistungen manchmal typische Merkmale des Jüdischen verrieten. Hofmannsthal sprach von seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung. Martin Buber schätzte unter anderem seine an das Alte Testament anklingende legendäre Erzähhlung
"Das Buch Joram“ sehr hoch. In seinen langen Gedichten empfand Adorno eine Affinität zur Musik. Außerdem kann man sagen, daß sein Sprachstil in den Essays von tief-greifender Metaphorik ist, die wohl als jüdische Eigenart bezeichnet werden kann. Dies alles legt die Vermutung nahe,
抄録全体を表示