Beitraege zur oesterreichischen Literatur
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Der Geruchssinn in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Masaki KAWAHIGASHI
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2008 Volume 24 Pages 56-63

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Abstract

In diesem Text sollen die Merkmale der Darstellung des Geruchssinns bei Rilke unter besonderer Beachtung von "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" in Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel der Wahrnehmung zur Zeit der Jahrhundertwende behandelt werden. Dabei soll auch das Werk "A Rebours" von Huysmans als Vergleich herangezogen werden, welches sich ebenfalls durch eine eigentumliche Beschreibung des Geruchssinns auszeichnet. Zwei Mangel wiesen dem Geruchssinn als Wahrnehmungsart auf der textualen Ebene traditionell einen niedrigen Rang zu: "Unbegreiflichkeit" und "Einmischung des eigenen Werturteils". Dieser traditionelle Standpunkt betrachtet den Vorgang der geruchlichen Wahrnehmung jedoch lediglich als Objekt und Gegenstand der Beschreibung. Der Realismus des 19. Jahrhunderts konstruierte auf dieser Basis eine Welt, in welcher das Sehen in der Darstellung eine dominante Rolle spielte. Gleichzeitig wurde der Geruchssinn herabgestuft, und in den Fallen, wo er in der Schilderung eingesetzt wurde, blieb er auf einfache Metaphern beschrankt. In diesem Sinne bleibt auch "A Rebours", das wegen der Vielfalt und des Reichtums der Darstellung als Paradebeispiel fur die Beschreibung von GeruchseindrUcken gilt, im Rahmen eines stilistischen Experiments. Auch in "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" basiert die Wahrnehmung des Protagonisten nach dessen Worten, "Ich lerne sehen", auf dem Sehen. Die Gegenwart des Handlungsorts Paris wird in diesern modernen Subjekt-Objekt-Verhaltnis beschrieben. Die. Vergangenheit jedoch, welche die Gegenwart zu dekonstruieren scheint, wird mit Geruchswahrnehmung verbunden. Die Besonderheit der Verwendung des Geruchssinns bei Rilke kann in der Trennung von der traditionellen Asthetik, die den Geruch zurn Objekt der Beschreibung macht, gesehen werden. Diese Verwendung des Geruchssinns bei Rilke geht vom Scheitern der ursprunglichen Funktion der Sprache als Symbolisierung und Kategorisierung aus und ist vor dem Hintergrund des grundlegenden Paradigmenwechsels des sprachlichen Stils um die Jahrhundertwende zu sehen. In diesem Werk gilt der herkommliche Dualismus von Innen und Aussen, Vergangenheit und Gegenwart, sichtbarer und unsichtbarer Welt nicht, denn der Geruchssinn hat eine transzendentale Funktion, welche die Grenze solcher Spharen uberspringt. Dies bedeutet die Veranderung des Verhaltnisses zwischen dem Subjekt als Zentrum der Wahrnehmung und seiner Umwelt und damit letztendlich die Entstehung einer neuen textualen Wirklichkeit und den Wandel der Wahrnehmungsstruktur. Dieser Prozess hatte zur Folge, dass das Subjekt kein bedeutungszuweisendes, schopferisches Individuum mehr ist, sondern ein Individuum mit offener Wahrnehmung, welches das Dasein der Gegenstande annimmt, so wie sie sind. Zugleich ist es ein durch die Akkumulation der von solchen Wahrnehmungen ausgelosten Erinnerungen und Assoziationen geschaffenes, konstruiertes Subjekt.

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