die Deutsche Literatur
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Dichtung und Geschichte bei Georg Büchner
Versuch über die Methode der Literaturgeschichtsschreibung
TAKAHIKO OHSAKI
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1982 Volume 68 Pages 103-112

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Abstract

Bei der Einordnung der literarischen Werke Büchners in die deutsche Literaturgeschichte der Neuzeit ist besonders zu berücksichtigen, wie Büchner selbst das Verhältnis zwischen Literaturverständnis und Geschichtsbewußtsein begreift. Denn die Zeit Büchners ist eine Zeit, wo Deutschland sowohl bezüglich der Sozialgeschichte als auch der Geistesgeschichte einen seiner entscheidendsten Wendepunkte erfuhr, und Büchner trachtet danach, das der Neuzeit eigene Verhältnis zwischen dem Menschen als Einzelnem und der Geschichte als Ganzem durch die Dichtung als Methode und Form zum Ausdruck zu bringen.
Für die Herausbildung der Grundgedanken Büchners ist das persönliche Erleben der fortgeschrittenen geschichtlichen Entwicklungsstufe Frankreichs während seiner Straßburger Studienzeit vom Herbst 1831 bis zum Sommer 1833 wichtig; ebenso sind es die frühsozialistischen Gedanken wie die von Saint-Simon, von dem er gelernt hat, daß die Gesellschaft aus zwei gegensätzlichen Klassen besteht, nämlich aus einer Minderheit, die im Besitz von Vermögen, Privilegien und Bildung ist, und einer Mehrheit, die zu Arbeit, Armut und Unwissenheit gezwungen ist. Resultat dieser Einsicht Büchners ist eine von ihm gegründete Bewegung, die mit Hilfe des Pamphlets "Der Hessische Landbote“ die hessischen Bauern zum Aufstand gegen ihre Regierung aufrief. Nach dem Scheitern dieser Bewegung wandte er sich der Dichtung zu. Sein erstes literarisches Werk, "Dantons Tod“, ist zwar von der fatalistischen Geschichtsanschauung beeinflußt, die er durch das Studium de Geschichte der Französischen Revolution von Thiers und von Mignet, den Begründern der sogenannten "école fataliste“, erwarb, aber daneben bestehen auch seine revolutionären Gedanken fort, die schon im "Hessischen Landboten“ offenbar waren und nun in diesem Drama von namenlosen Bürgern ausgedrückt werden, im Gegensatz zum Fatalismus, der bei der Titelfigur vorherrscht.
Diese Zwiespältigkeit Büchners ist dem Ich der Neuzeit eigen, das sich aus dem Schutz Gottes gelöst hat und mit erwachendem Selbstbewußtsein seinen eigenen Weg zu gehen versucht. Gerade diese Zwiespältigkeit ist aber auch die treibende Kraft, die Büchner zum literarischen Schaffen veranlaßt.
Büchner erkennt die Gesetzmäßkeit der Geschichte, glaubt jedoch, daß die Freiheit des Menschen darin besteht, innerhalb der Geschichte durch seine Entscheidungen auf den Verlauf des geschichtlichen Entwicklungs-prozesses einzuwirken. In diesem Sinne sind bei Büchner politische Aktivität und literarisches Schaffen keineswegs getrennt, denn Büchner weiß, daß ein literarisches Werk im Zusammenhang von Produktion und Rezeption ein gesellschaftlicher Faktor werden kann, daß aber andererseits das Werk selbst ebenso von den gesellschaftlichen Gegebenheiten beeinflußt wird.
Auch in den beiden Dramen "Woyzeck“ und "Leonce und Lena“ behält er diese literarische Haltung bei. Im ersteren wird der arme Soldat Woyzeck von der Gesellschaft unterdrückt und in den Wahnsinn getrieben, und im letzteren wird die höfische Gesellschaft dargestellt, die nur von der Arbeit der anderen Klasse existieren kann und trotz ihres angenehmen Lebens unter Langeweile und Melancholie leidet. Beide Dramen sind also aufzufassen als Beschreibungen derselben gesellschaftlichen Zustände, allerdings von zwei verschiedenen Standpunkten aus beleuchtet.
In der deutschen Literaturgeschichte ist Büchner ein Sonderfall, der nicht von seinen Zeitgenossen anerkannt wurde, sondern erst lange nach seinem Tod. "Georg Büchner 1813-1837“ war ein Anfang.

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