die Deutsche Literatur
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Nestroy und die Märzrevolution
YOSHIMICHI TSUKABE
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1982 Volume 68 Pages 34-45

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Abstract

Im Revolutionsjahr 1848 beflügelte die Aufhebung der Zensur den satirischen Geist Nestroys und regte ihn zu seinem revolutionären Theaterstück "Freiheit in Krähwinkel“ an, das er für sein bestes hielt. Dieses Stück hat die wirklichen Revolutionsereignisse vom 13. März bis 27. Mai in Wien zum Gegenstand. Trotz seiner Zeitverbundenheit ist das Stück doch kein Dokument der Revolution. Denn es kam Nestroy vor allem darauf an, mit Hilfe aktueller Bilder eine illusionäre Revolution in Possenform zu entwerfen, die in der Wiener Volkstheatertradition tief verwurzelt war, damit er das Illusionäre in der realen Revolution enthüllen könnte.
Welche Stellung hat dieser Satiriker zur Märzrevolution genommen? Um "das Rätsel von Nestroys Engagement oder Nicht-Engagement“ und damit das Wesen seiner Satire darzulegen, sollen zuerst die verschiedenen Objekte seiner politischen Satire aus dem historischen, gesellschaftlichen Gesichtspunkt verdeutlicht werden. In der Posse "Freiheit in Krähwinkel“ kann man auf folgende drei Richtungen hinweisen:
1. gegen das Metternich-System- Bürokratismus, Zensur, Spitzeltum- und die Ligurianer.
2. gegen das Bürgertum- die Ziellosigkeit seines Freiheitsrausches und seinen Kompromiß mit der Reaktion- und die Vorkämpfer und Fahnenträger der Freiheit.
3. gegen das Arbeiter-Proletariat- seinen anarchischen Radikalismus. Zwischen die 2. und 3. Gruppe reiht sich der radikale Kreis der Kleinbürger und Studenten ein.
In der Märzrevolution behielt zunächst das bürgerliche Element die Oberhand. Aber im Prozeß des Übergangs der Revolution von der Bourgeoisie zum Proletariat wurde das Bürgertum zum Zweifrontenkampf gezwungen, rückwärts gegen den Adel und vorwärts gegen das Proletariat. Nestroy, der seit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre zum Großbürgertum gehörte, näherte sich bewußt von oben her dem Volk d.h. dem Kleinbürgertum und dem Proletariat als seinem ursprünglichen Publikum, wobei sich in Nestory Sein und Bewußtsein immer mehr spalteten. Diese Spaltung, die in der Revolutionszeit ihren Höhepunkt erreichte, ist der Ursprung scharfer Geschliffenheit und schöpferischer Vielseitigkeit der politischen Satire Nestroys.
In "Freiheit in Krähwinkel“ tritt schon der Sieg der Reaktion im Traum des Bürgermeisters in Erscheinung. Zum Zeitpunkt der Uraufführung dieser Posse erkannte Nestroy, daß "das Gespenst der Reaktion“ die Freiheit zu zerstören drohte. Gegen diese antirevolutionäre Tendenz der Zeit feierte er den Sieg der Revolution am Schluß seiner Posse, wo Ultra als Proletarier erklärt: "Die Reaktion ist ein Gespenst, aber G'spenster gibt es bekanntlich nur für den Furchtsamen; drum sich nicht fürchten davor, dann gibt's gar keine Reaktion!“ Wenn dieses berühmte Wort Ultras dazu beigetragen hat, den Kampfwillen gegen die stärker werdenden Kräfte der Reaktion zu festigen, dürfte man vom politischen Engagement Nestroys sprechen.
Nach der Niederlage der Revolution schrieb Nestroy die Posse "Lady und Schneider“, in der eher die Revolution als die Reaktion karikiert wird. Aber das zeitgenössische Urteil, Nestroy sei politisch wetterwendisch, könnte von ihm nicht gelten. Denn gerade in dieser Posse klagte er "Hun-derttausende“ von politischen Umsattlern an, - diese Zahl deutet auf die gesamte Bevölkerung von Wien. Hinter der Kollektivschuldfrage steckt Nestroys Selbstkritik, die sich gegen das Bürgertum als wahren Nutznießer der Märzrevolution richtet. Zwischen den beiden Possen in und nach der Revolutionszeit gibt es keinen ideologischen Gegensatz.

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