Neue Beiträge zur Germanistik
Online ISSN : 2433-1511
Sonderthema: Technik/Technologie
„Ich schwöre weinend, es sei nicht meine Schrift“
— Zwischen Exotik und Technik. Moderne Technologie als mediale Aneignung indigener Denkmuster —
Manuel Philipp KRAUS
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2022 Volume 164 Pages 108-132

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Abstract

Artist oder Maschine? fragt sich der Autor der Fachzeitschrift Der Artist vom 12. April 1914, wenn es um die zunehmende Technologisierung der menschlichen Seele geht und er hinzusetzt: „Hat das künstlerische Arbeiten des Artisten noch Wert oder muss er seine Machtstellung an die Ingenieure abtreten […]? Die Individualität […] stirbt aus, denn die Maschine ist der Todfeind der Individualität, und das Erlöschen des Individuellen ist das Ende jeder Kunstrichtung.“ Es sind insbesondere der von Thomas Edison erfundene Phonograph und das kurze Zeit später von Emil Berliner entwickelte Grammophon, die kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts dieses „Erlöschen des Individuellen“ (Ebd.) durch das Abspielen der in die Phonographenwalzen eingeritzten Stimmen mittels Störgeräuschen medial transkribieren und durch dieses Rauschen und Knistern einen Umbruch in der medientheoretischen Konzeption bei der Aufnahme und Wiedergabe von Sprachpixeln evozieren. Es sind weniger Aufschreibe- denn kognitive Einschreibesysteme, die in ihrer Funktion als unsterbliches, mediales Gedächtnis technischer Bilder die Zeitgenossen in Begeisterung versetzen, aber auch für deren Unmut sorgen. Während auf dem verschneiten Zauberberg das Grammophon als epochale „Fülle des Wohllauts“ (Mann 2008: 874) begrüßt wird, sieht Franz Kafka in ihm vielmehr sein Verderben (Kafka 2015: 113), Hermann Hesse gar den „Vernichtungskampf gegen die Kunst“ (Hesse 2012: 325). Die größte Würdigung finden Phonograph und Grammophon aber ohne Zweifel in der bekannten Arbeit von Friedrich Kittler Grammophon Film Typewriter (1986). Doch lässt Kittler seine Sprechmaschinen nur begrenzt der Offenbarung entgegenrauschen, denn man erfährt dort nur weniges über die exotische Begeisterung und das „mediale Ersetzen“ (Bub 2008: 61) dieser beiden technischen Wundermaschinen bei ihrer Handhabung in der ethnologischen und ethnographischen Feldforschungstätigkeit. Der vorliegende Beitrag versucht diese Lücke zu schließen, indem zum einen der medientheoretische Hintergrund von Phonograph und Grammophon erläutert wird, zum anderen aber mit Bezug auf ethnologische Reiseberichte im Zeitraum zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus Einblick darin gegeben wird, inwiefern der Phonograph und das Grammophon als technischer Exotismus in der Feldforschung Einsatz fanden. Dabei wird auch das ambivalente, teils kolonialistisch geprägte Verhältnis zwischen den Forschern aus der westlichen Zivilisationsgesellschaft und den sogenannten edlen Wilden aus der atavistischen Fremde beleuchtet, die für unzählige Aufnahmen und die Speicherung einer Ästhetik des Diversen (Segalen 1994) ihr kulturelles Gedächtnis zur Verfügung stellen mussten. Diese Form einer erweiterten kulturellen Übersetzung veranschaulicht, dass ungeachtet der technischen Entwicklung und der sich aus ihr ergebenden wissenschaftlichen Möglichkeiten, die Technik im Urwald eine differenzierte Form kultureller Aneignung darstellt und letzten Endes eine Fortsetzung kolonialer Bestrebungen symbolisiert, bei denen es jedoch weniger um die Zurschaustellung der westlichen Überlegenheit, sondern vielmehr um den Ausdruck einer gesteigerten Sammelleidenschaft exotischer Ethnographica geht.

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