Musils
"Möglichkeitssinn“ verbindet sich untrennbar mit der Erkenntniskritik, die den Grund des Wirklichen und des Festen in Frage stellt. Obwohl dieser Möglichkeitssinn selbst eine weite Tragweite hat, führt er bei Musil ausschließlich zum Problem der Liebe, zum Phantasma der
"Vereinigung“.
Weil die Liebe mit der Sprache, der symbolischen Ordnung sehr tief verbunden ist, geht der Suche nach der von zufälliger Wirklichkeit befreiten Liebe die Nachprüfung der bestehenden Liebesdiskurse voran. Nachdem im ersten Buch von
"Der Mann ohne Eigenschaften“ (=MoE) die Diskurse der Liebe, die sich in die soziale Ordnung einfügen, satirisch verfolgt werden, wird im zweiten Buch nach der Utopie der Vereinigung von Ulrich und Agathe gesucht. Die Vereinigung ist erst möglich, wenn alle Grenzen, die die gewöhnliche Welt artikulieren, ihre Gültigkeit verloren haben. Als sich Ulrich und Agathe beim Begräbnis des Vaters wiedersehen, begegnen sie einander als <Ich> und sein <Spiegelbild>. Sie kehren gleichsam zum
"Spiegelstadium“ zurück. Und dann, sich von der Gesellschaft zurückziehend, suchen sie die Möglichkeit der Liebe jenseits von der wirklichen Norm.
F. A. Kittler charakterisiert die moderne Liebe, indem er die Geschichte von Werther und Lotte mit der von Paolo und Francesca vergleicht. Während in der Geschichte von Dante die Rede die Gewalt über den Körper hat, verlieren in der Liebesgeschichte von Goethe die Worte eine solche Gewalt. Durch das Lesen empfinden Werther und Lotte ihre Seelenver-wandtschaft und blicken nur einander an. Eine solche Liebe, die man imaginäre Liebe nennen könnte, bleibt also
"die Liebe der Seele“. In Musils Novellen
"Vereinigungen“ erleben die Heldinnen die mystische Vereinigung mit dem fernen Liebenden, indem sie einmal ihre persönliche, imaginäre Liebe verlassen und sich selbst einem Anderen (dem Ministerialrat) oder dem Anderen (der stummen Natur) eröffnen. Sie konnten vermittels des Anderen dem Bann der imaginären Liebe entgehen. Bei Ulrich und Agathe ist es anders. Diese
"Siamesischen Zwillinge“, diese
"Ungetrennten und Nichtvereinten“ lesen die Bücher von Mystikern, sprechen endlos miteinander über die Liebe und vermeiden die endgültige Vereinigung. Auch sie erleben zwar manchmal Augenblicke der Vereinigung, aber sie interpretieren die Erlebnisse und nehmen sie wieder in ihr Gespräch auf. So häufen die Geschwister unersättlich die Sprache über die Liebe an und bleiben schließlich im Bann der imaginären Liebe, fehlt doch dieser Geschwisterliebe der Andere, also auch das Andere der Liebe. So erstarrt die Liebe von Ulrich und Agathe zum Stilleben. Aber wenn alle möglichen Umgehungen des Liebesgeständnisses und Liebesaktes die Liebesdiskurse in der Literatur nährten, entspricht es der
"letzten Liebesgeschichte“, daß sich in
"MoE“ das Phantasma der Vereinigung in der Sprache über die Liebe erschöpft.
In Musils Werken taucht das Andere als Töne oder Stimmen auf. In
"Die Vollendung der Liebe“ hört Claudine Geräusche und Töne, die man gewöhnlich nicht hören kann, als sie alle Grenzen überschreitet. Auch Moosbrugger hört überall Laute und Stimmen. Weil er sich außerhalb des symbolischen Systems der Sprache befindet, hört er, was sonst niemand hört. Dieses Rauschen, das von der Sprache ausgeschlossen ist und doch in außerordentlichen Fällen als das Andere der Wirklichkeit gehört wird, ist einerseits auch mit dem Schweigen identisch. Es schweigt, weil es das Ohr der Menschen nicht erreicht. Das Rauschen anderseits verklärt sich zur Musik.
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