Der Entwicklungsstand der DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren deutet vor allem darauf hin, daß sich die Überprüfung und Erneuerung ihrer methodischen Grundlagen zwar sicheren Schrittes, aber auch in polemischer Form voliziehen. Davon zeugen exemplarischerweise sowohl die von Werner Mittenzwei initiierte
"Klassikdebatte“ in den Zeitschriften
"Sinn und Form“ und
"Weimarer Beiträge“ als auch die schöpferische Auseinandersetzung von Krauss-Schülern mit der vom Boden der BRD ausgehenden literaturwissenschaftlichen
"Provokation“, nämlich der
"Rezeptionsästhetik“ von Hans R. Jauß.
Die Klärung erbetheoretischer Probleme im Interesse der sozialistischen Kulturpolitik in der DDR erwies sich als immer dringender in einer Zeit, in der die
"imperialistischen Ideologen in der BRD“ -um mit Kurt Hager zu sprechen-
"Besitzansprüche auf die besten kulturellen Traditionen des deutschen Volkes anzumelden“ versuchten. Erst in diesem Kontext erlangt die
"Klassikdebatte“ eine große literaturwissenschaftliche Bedeutung. Dem Initiator der Debatte ging es in erster Linie um Brechts Verhältnis zur literarischen Vergangenheit, insbesondere zur deutschen Klassik, und um dessen aktuelle Bedeutung für die produktive Erbeaneignung in der Gegenwart.
Der eigenartige Charakter dieser Kontroverse hängt zweifellos damit zusammen, daß ein Brecht-Spezialist, der sich in keiner Weise der Germanistik zugehörig fühlt, these zu provozieren versuchte. Aus dem Polarisierungsprozeß von DDR-Germanisten, die sich-gewollt oder ungewollt-darauf einließen, ergab sich ein Bild, welches für das Methodenbewußtsein marxistischer Klassikforschung bezeichnend ist: Da steht eine Gruppe, die die deutsche Kiassik im normativen Sinne auffaßt, unversöhnlich dem Initiator der Debatte gegenüber, zumal er dieselbe unter dem negativen Aspekt von Brecht problematisiert. Dann schaltet sich eine andere Gruppe, zu einem
"Zweifrontenkampf“ veranlaßt, dazwischen.
Über die Frage, ob und welche Impulse für unser Handeln in der heutigen Welt von der dcutschen Klassik ausgehen, kann freilich sehr viel diskutiert werden. Aber die alternative Frage
"Goethe oder Brecht?“ wird sicherlich an dieser Erbediskussion vorbeigehen. Es geht hier, im Grunde genommen, um den erbetheoretisch relevanten Aspekt, die Dialektik von wissenschaftlicher und künstlerischer Erbeaneignung als das Prinzip produktiver Vermittlung bewußtzumachen.
Als Kehrseite derselben Medaille stellt sich die grundsätzliche Auseinandersetzung marxistischer Literaturwissenschaftler mit den ästhetischen Positionen von Jauß heraus. Indem sie einerseits solche Begriffe wie
"Erwartungshorizont“,
"rezipierendes Publikum“ u.a., die in der
"Rezpetionsästhetik“ von Jauß die zentrale Schlüsselstellung einnehmen, einer scharfen Kritik unterziehen, weisen sie auf die spezifische
"Form literarischer Immanent“ hin, die sich hinter seinen literaturgeschichtlichen Konzeptionen versteckt hält.
Aber die berechtigte Kritik von Jauß an der
"orthodoxen Wiederspiegelungstheorie“, die das Kunstwerk
"auf eine nur abbildende Funktion“ reduziert und die
"Einsicht in den wirklichkeitsbildenden Charakter der Kunst“ lange unterdrückt habe, nehmen sie andererseits auch zum Anlaß, um erneut über das bislang vernachlässigte Prinzip von Wirkung und Rezeption in der marxistischen Literaturwissenschaft zu reflektieren.
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