Die Bedeutung der Kritik an der Historie im zweiten Stück der
"Unzeitgemäßen Betrachtungen“ von Nietzsche läßt sich erst dann recht verstehen, wenn man in dieser Schrift keine grundsätzliche Absage an der Historie überhaupt, sondern einen Übergang zu einer tieferen Dimension des Geschichtsdenkens sieht. Der Übergang ist aber nicht ohne weiteres gelungen. Der Grund dafür liegt darin, daß Nietzsche dabei die Besonderheit seines neuen, später Nihilismus genannten Geschichtsbewußtseins der Tradition des Historismus gegenüber nicht genügend geklärt hat. In dieser Schrift lassen sich nämlich sowohl Spuren des tradierten Historismus als eine Distanzierung davon feststellen. Durch die Analyse der Gemeinsamkeit und des Unterschieds zwischen dem überlieferten Geschichtsdenken und dem neuen von Nietzsche soll hier die Besonderheit seines neuen Geschichtsbewußtseins aufgezeigt werden. Erst dann wird verständlich, warum Nietzsche später ab
"Menschliches, Allzumenschliches“ die Historie positiv beurteilt. Als Beispiel für das traditionelle Geschichtsdenken habe ich W. v. Humboldt gewählt. Er ist insofern exemplarisch, als er stillschweigend an der
formalen metaphysichen Voraussetzung festhält, daß in der Geschichte doch ein innerer, wenn auch
inhaltlich nicht bestimmbaren Zusammenhang bestehe. Darin stimmt das Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts generell überein, wie streng man auch sonst jede philosophischen Systeme bei der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung ablehnen mag. Dem. Vergleich zwischen Humboldt und Nietzsche kommt der Umstand zugute, daß sich in der zweiten
"Unzeitgemäßen Betrachtung“ Gedanken finden, die an die Humboldts erinnern.
Nietzsche stimmt sowohl mit Humboldt als auch mit dem Historismus in dem Anspruch überein, daß der Geschichtsschreiber die Geschichte so verarbeiten solle, daß ihr innerer Zusammenhang als eine künstlerische Einheit erscheine. Der Geschichtsschreiber müsse nämlich in der Geschichte selbst, oder genauer: an den einzelnen Begebenheiten selbst, auf den ganzen Zusammenhang hindeuten können. Hierin sieht Humboldt wie auch Nietzsche das Wesen der Objektivität.
Diese Gemeinsamkeit bleibt aber an der Oberfläche, denn bei Nietzsche fehlt gerade jene latente metaphysische Voraussetzung, die es Humboldt ermöglicht, die Geschichte als einen Zusammenhang aufzufassen und an den einzelnen Begebenheiten (den Teilen) das Ganze der Geschichte zu
"ahnden“.
"Ahndung“ heißt bei ihm also nichts anders als die hermeneutische Kreisbewegung zwischen den Teilen und dem Ganzen bei der Geschichtserkenntnis. In der Tat war Humboldt sich der hermeneutischen Kreisstruktur der Geschichtserkenntnis durchaus bewußt. Durch diese Kreisbewegung aber gewinnt der Historiker-so kann man aus Humboldts Darlegung des Begriffs
"Objektivität“ schließen-nicht nur die Einsicht in den Zusammenhang der Geschichte. Er eignet sich,
korrelativ dazu, auch das Identitätsbewugtsein seiner selbst als archimedischen Punkt der Geschichte gegenüber an. Man darf also sagen, daß bei Humboldt der Historiker letzten Endes doch, außerhalb‘ der Geschichte steht und
als Subjekt der Erkenntnis selbst nicht darin verwickelt ist. Oder genauer: Er
kommt in den hermeneutischen Kreis nur
hinein, um daraus
herauszukomen. Diese Fähigkeit nennt Humboldt den
"historischen Sinn“. Ganz anders bei Nietzsche. Ihm fehlt eigentlich schon die Möglichkeit eines archimedischen Punktes,
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