Beitraege zur oesterreichischen Literatur
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Die Masse hinter dem Gartengitter : Musils Einstellung zu den politischen Ereignissen seiner Zeit und das Umschreiben des Garten-Kapitels im Mann ohne Eigenschaften
Mototsugu KATSURA
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2008 Volume 24 Pages 10-18

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Abstract

Musils Aktivitat als Schriftsteller ist wahrend seines Exils sehr beschrankt im Vergleich z.B. mit derjenigen in den 1920er Jahren. Er beschaftigt sich hauptsachlich mit dem sogenannten "Garten-Kapitel" im Mann ohne Eigenschaften, das bereits 1937/38 in Druck gegeben, dann aber von ihm wieder zuruckgezogen worden war. Anders als Thomas Mann oder Hermann Broch in den USA hat Musil in der Schweiz sich jeglicher politischer Ausserung enthalten und statt dessen nur immer wieder dieselbe Szene im Garten umgeschrieben, mit deren Problemkreis er sich eigentlich schon seit Anfang der 30er Jahre beschaftigt hatte, bis sich das Kapitel in drei unabgeschlossene Gruppen verzweigte. Dieser Vorgang wirft zwei Fragen auf: Wieso konzentriert sich Musil so ausschliesslich auf die Umschreibung des Kapitels? Und: Ignorierte er damals tatsachlich die aktuellen Geschehnisse? Walter Fanta erwahnt, dass sich durch die politischen Veranderungen in Deutschland 1933 eine "Aushohlung der unwirklichen Teile des Vorhabens" ergab, indem die Geschichte, die im zweiten Band des Romans als Warnung fur die Zukunft erzahlt werden sollte, von den aktuellen politischen Ereignissen eingeholt, ja uberholt wurde. Nach seiner These wird Musil von einem Gefuhl der "intellektuellen Machtlosigkeit" im Hinblick auf die unverstandliche Situation in Deutschland erfasst. Zwar lasst sich seit der Machtergreifung Hitlers ein Schreibstillstand in Bezug auf den Roman feststellen, aber gerade wahrend des Stillstands fangt Musil an, einen politischen Essay, Bedenken eines Langsamen, zu schreiben. Dabei betrachtet er die Ereignisse von 1933 als Wiederholung von 1914. Im Essay sollte besonders der zur Tat treibende Affekt der Masse betrachtet werden, der der politischen Bewegung nach der Machtergreifung ihren massenwahnartigen, pathologischen Charakter verleiht. Die in diesem Essay versuchte Beschreibung Musils erinnert an die Gefuhlspsychologie im Garten-Kapitel. Darin wird der Affekt definiert als Bestandteil des Gefuhls, das sich wechelseitig mit der Tat auspragt und verfestigt. Die Erklarung hierzu stammt eigentlich aus Ernst Kretschmers Abhandlung Medizinische Psychologie. Musil hatte das Buch schon in den 20er Jahren gelesen, um in seinem asthetischen Essay Ansatze zu neuer Asthetik den Begriff "der andere Zustand", also den gehobenen Lebenszustand zu erklaren. Daraus lasst sich schliessen, dass Musil den anderen Zustand nicht nur im Kunsterlebnis sowie zwischen den Geliebten, die er im Garten-Kapitel zu beschreiben versuchte, sondern auch in der Massenbewegung nach der Machtergreifung sah. Das Kapitel, das die Vorstufe der drei Garten-Kapitelgruppen bildet, heisst "Sonderaufgabe eines Gartengitters". Musil beschrieb darin ein seltsames Experiment der Geschwister, die versuchen herauszufinden, ob sie einen Bettler hinter dem Gartengitter, den Agathe "Scheusal" nennt, wie sich selbst lieben konnen. Aber im zweiten Kapitel-Entwurf von "Atemzuge eines Sommertags", den Musil in Zurich schrieb, tritt der Mann nicht mehr auf. Stattdessen stromen anonyme Menschen am Garten vorbei: in der Schweiz sah Musil das "Scheusal" also nicht mehr in der Figur des unheimlichen Bettlers, sondern im "unruhigen Spiel der Seelen" der Masse. Deswegen versuchte Musil ein Kapitel mit dem Titel "Versuche, ein Scheusal zu lieben" an "Atemzuge" anzuschliessen, und dazu dient das Gedankenexperiment der Geschwister im Roman. Das Motiv der "Masse hinter dem Gartengitter" entspricht dem von "Agathe hinter Gittern", das im Kapitel "Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse" auftaucht. In Ulrichs Kopf entsteht das sonderbare Bild, nachdem die grenzenlose Selbstlosigkeit im Mondrausch, in dem auch die Sprache ihren Eigensinn verliert, vorubergegangen ist. Daraus kann man schliessen, dass Musil in den 1930er Jahren, indem

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