die Deutsche Literatur
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Eine Märchen-Debatte zwischen Grimm und Arnim
YOSHIKO NOGUCHI
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1991 Volume 86 Pages 85-95

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Abstract

Der Begriff des "Märchens“ läßt sich bis heute im allgemeinen immer noch nicht klar definieren. Was ein Märchen ist, wird deshalb von den meisten Leuten verschieden ausgelegt. Das Märchen bekam seinen Namen als Bezeichnung für eine bestimmte literarische Form eigentlich erst, nachdem die Brüder Grimm ihre Sammlung "Kinder- und Hausmärchen“ nannten. Dabei betrachteten sie nur das Volksmärchen als Märchen, das sie sehr deutlich vom Kunstmärchen unterschieden.
Die Hochschätzung der Volksmärchen bei den Brüdern Grimm geht eigentlich auf Herder zurück, der die Volkskultur ebenbürtig neben die Hochkultur stellte und das natürliche Gefühl des Menschen stark aufwertete, das, wie Herder sagt, in der Zeit der Aufklärung durch die Vernunft unterdrückt worden sei. Er hatte jedoch ein zu gefühlsbetontes Verhältnis zur Natur, so daß für ihn jede Art von Dichtung, die aus echtem Gefühl und tiefer Leidenschaft hervorging, Volkspoesie war. Also auch ein Werk, das man der Kunstpoesie zurechnete. Dieser umfassende Herdersche Begriff der Volkspoesie hat sich dann bei den Romantikern in zwei verschiedene Richtungen entwickelt: in die mehr ästhetisch-literarisch orientierte Richtung von Brentano, Arnim u.a. und in die mythisch volksgebundene, die vor allem von Görres und den Brüdern Grimm vertreten wurde. Diese grundsätzlich unterschiedliche Auffassung des Märchens der beiden Richtungen führte zu einer Auseinandersetzung über den Begriff Volksmärchen zwischen Arnim und den Brüdern Grimm.
Für die Brüder Grimm ist das Volksmärchen die alte Poesie, die in der "uralten harmonischen goldenen Zeit“ aus dem Volksganzen entstanden sei, während sie das Kunstmärchen als neue Poesie bezeichnen, das in der entfremdeten Gegenwart der "eisernen Zeit“ von "neuen Menschen“ durch eigene Phantasie individuell geschaffen worden sei. Der Verlauf der Geschichte ist für die Brüder Grimm ein Abfallen von jener ursprünglichen Höhe. Dabei muß man berücksichtigen, daß die Zeit, in der die Brüder Grimm lebten, eine Zeit war, in der das deutsche Volk unter der französischen Besatzungsmacht zu leiden hatte. Die jungen Romantiker vesuchten damals, in Erinnerung an die nationale Vergangenheit mit Hilfe der Volkspoesie ein gesamtdeutsches Nationalgefühl zu wecken, anstatt wie bisher die französische Kultur nachzuahmen. Auf der einen Seite scheint die harmonische goldene Zeit für die Brüder Grimm die christliche Urzeit zu bedeuten, in der das Paradies auf Erden noch nicht verloren war, auf der anderen Seite aber scheint sie auf die nicht religiöse, d.h. auf die politische Gegenwart zu deuten, in der ein einheitlicher Staat für das ganze Volk existierte. Die Vorliebe der Brüder Grimm für das mündlich überlieferte Volksmärchen ist so zu verstehen; sehen sie dock im Volksmärchen Jahrhunderte lang erhalten gebliebene Naturpoesie der Urzeit. Diese geschichts-philosophische Interpretation der alten Poesie ist Arnim durchaus fremd. Für ihn ist die Poesie weder jung noch alt und hat überhaupt keine Geschichte. Er betrachtet das Volksmärchen, wie das Kunstmärchen als Schöpfung von konkret fasßbaren Individuen, also beide als Kunstwerk.
Die Theorie der Brüder Grimm wird jedoch bei der Redaktion ihres Märchenbuches nicht richtig umgesetzt. Obwohl sie immer wieder das quellengetreue Forschungsprinzip betonten, haben sie doch ihre Märchen durch Kombinierung von mehreren Varianten stark umgestaltet. Um diesen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis zu erklären, sollte man von der Motivation der Herausgeber ausgehen.

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