Seit den 50er Jahren hat die Raabe-Forschung die Modernität von Raabes Erzählstruktur entdeckt, indem sie den Schwerpunkt auf die Form der Spätwerke verlagert hat. Diese Forschungsrichtung, eine Gegenposition zu der vor dem Zweiten Weltkrieg herrschenden, inhaltsorientierten Wertung, neigt aber nicht selten dazu, die Texte allzu formal zu analysieren. H. Ohl hat daher gefordert, ihre inhaltlichen und formalen Züge zusammenzusehen und z. B. die Erzählformen auch als inhaltlich notwendig zu begründen.
Mit ihrer frühen und mittleren Phase verglichen, träten in Raabes späterer Erzählkunst-so Ohl-besonders folgende zwei Momente hervor: 1) Die Beschränkung des auktorialen Erzählers auf einen einzelnen, empirisch begrenzten Ich-Erzähler. 2) Die Perspektivierung des erzählten Geschehens, d. h. die Betonung der Figurenperspektiven beim Fortbestehen des auktorialen Erzählers. Im folgenden wird also zuerst versucht, am Beispiel der beiden späten Ich-Erzählungen,
"Stopfkuchen“ und
"Die Akten des Vogelsangs“, die Unentschiedenheit thematisierter Opposition und die offene Erzählstruktur als gemeinsame Elemente herauszuarbeiten. Dann wird, auf die Forderung von Ohl hin, eine Möglichkeit vorgelegt, zu begründen, warum in den beiden Werken statt des auktorialen Erzählers der Ich-Erzähler auftritt.
In den zu behandelnden Werken steht die innere Freiheit des Individuums in scharfem Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft. Dieser thematische Gegensatz verkörpert sich in
"Stopfkuchen“ in der Figur des Ich-Erzählers Eduard, des gesellschaftlich Angesehenen, und in dessen Kontrastfigur Heinrich Schaumann, der in der Schulzeit wegen seiner negativen Konstitution gesellschaftlich isoliert war. Dieser Gegensatz bleibt aber nicht eindeutig, sondern entfaltet sich mit der Technik der
"ironischen Umkehrung“ (H. Ohl) Raabes, der für Eduard ebensowenig Partei nimmt wie für Schaumann, als durchaus gleichberechtigt. Am Ende kommt nämlich zutage, daß Eduard, der glaubt, sich selbst verwirklicht zu haben, indem er sich aus seinem alten Freundeskreis entschieden herausgehoben hat, in der Tat immer noch mit den philiströsen Wertschätzungen der heimatlichen engen Gesellschaft verbunden ist. Dagegen erweist sich Schaumann als ein von allen gesellschaftlichen Werturteilungen unabhängiger Mensch. Nicht zu übersehen ist aber, daß auch Schaumann kein eindeutig-positiver Wert zugeteilt ist. Diese Unentschiedenheit bleibt bestehen. Zwar schreibt das erzählende Ich von allen Geschehnissen, es unternimmt es aber nicht, diese in seinen Aufzeichnungen einheitlich zu rekonstruieren, indem es diese reflektiert und kommentiert. Es läßt also alles offen. Gerade diese
"offene Form“ (H. Denkler) macht es unmöglich, Eduard und Schaumann in klarem Gegensatz zu sehen. Diese vom Autor bewußt gewählte Form aktiviert den Leser, selber zu einem möglichen Gegensatz Stellung zu nehmen.
In den
"Akten des Vogelsangs“ vertritt wiederum der Ich-Erzähler Karl Krumhart die Normen der bürgerlichen Gesellschaft, während der andere Protagonist, Velten Andres, den an inneren, eigenbestimmten Werten orientierten Unabhängigen verkörpert. Dieser Kontrast kommt hier wieder nicht eindeutig zum Vorschein, doch diesmal durch die
"ambivalent gewordene Lebensperspektive“ (W. Preisendanz) Karls. Dieser protokolliert einen Prozeß, den Velten gegen die bürgerliche Welt geführt hat, verliert sich selbst durch den Zauber Veltens immer mehr und muß dennoch jedesmal seine bürgerliche Identität wiederfinden. Der Gegensatz bleibt bier nochmals in einer anderen
"offenen Form“ in der Schwebe,
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