Das lateinische Wort
exemplum wird seit Aristoteles als Kunstausdruck der antiken Rhetorik verwendet und bedeutet
"eingelegte Geschichte als Beleg“.
Das Exempel gehört von Anfang an zu den literarischen Kleinformen der Narration. Dem Mittelalter dienen die
exempla allgemein als Muster-beispiele menschlicher Vorzüge und Schwächen, mit denen Prediger bzw. Schriftsteller ihre religiösen und moralischen Lehren zu erhellen, zu stützen und zu verdichten suchten. Solche Exempelerzählungen sind nicht national gebunden; zunächst vorwiegend lateinisch verfaßt, wurden sie überall benutzt und teilweise in andere Kulturkreise übertragen.
Johannes Paulis
Schimpf und Ernst (gedruckt 1522), die erste Sammlung deutscher Kurzprosa, steht in dieser europäischen Exempeltradition der unterhaltenden und erbaulichen Lektüre, die seit dem Mittelalter in ganz Europa sehr verbreitet war. Angeregt von Johann Geiler von Kaysersberg sammelte Pauli als Predigtmaterialien 639 international bekannte Erzählungen aus mehr als 40 Quellen, von denen über zwei Drittel, d.h. alle 457 mit
"von schimpff“ betitelten Predigtexempel, schwankhaften Charakter aufweisen. Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung werden ausschließlich nur diese
Schimpf-Exempel aufgegriffen und ihre Erzählstruktur vom Standpunkt der Erzählforschung aus untersucht.
Ausgangspunkt der neueren strukturalen Erzähltextanalyse ist die Märchenforschung des russischen Volkskundlers Vladimir Propp, die unter dem Titel
Morfologija skazki (Morphologie des Märchens) erstmals 1928 in Leningrad erschien. Die vorliegende Untersuchung basiert theoretisch wie methodisch auf der Erzählanalyse Propps und versucht, das Gesamtkorpus in möglichst große Gruppen aufzugliedern und daraus Varianten abzuleiten. Als Kriterien für die Bestimmung der Haupttypen werden zunächst im Anschluß an Propp und seinen amerikanischen Nachfolger Alan Dundes die folgenden drei Arten der
"Komplikation“ auf kommunikativ-pragmatischer Ebene hypothetisch abgeleitet:
1. Plan-Typus
2. Aufforderungs-Typus
3. Anregungs-Typus
Aus der Bearbeitung des Gesamtkorpus ergibt sich, daß diese drei hypothetisch angenommenen narrativen Typen in allen 457
Schimpf-Exempeln Geltung haben. Darunter erscheint der Plan-Typus am häufigsten; ca. 180
Schimpf-Exempel, das sind 40% des Gesamtkorpus, gehören zu diesem narrativen Typus, bei dem Betrügerei und Überbietung, die beliebtesten Schwankstoffe, eine große Rolle spielen. Das zweithäufigste Muster der narrativen Struktur, d.h. 30% der
Schimpf-Exempel, wird vom Anregungs-Typus gebildet. Dieser Typus gliedert sich je nach Art der Komplikation in mehr als 20 Untertypen; relevante Kategorien sind sprachliche Reize wie Lobworte oder Schmähworte. Der Aufforderungs-Typus ist im Vergleich zu anderen in geringerem Umfang zu verifizieren; ungefähr 100
Schimpf-Exempel, d.h. 20% des Gesamtkorpus, gehören zu diesem Typus, dessen größter Untertypus die Frage-als Aufforderung zur Antwort-ist. Ferner gehören etwa 50
Schimpf-Exempel, das sind 10% des Gesamtkorpus, zum gemischten Typus, bei dem zwei unterschiedliche narrative Typen in einer Erzählung vorkommen.
Aus der geringen Anzahl von Exempeln des gemischten Typus ist zu schließen, daß die
Schimpf-Exempel von Johannes Pauli gemäß der lateinischen Exempeltradition prinzipiell klar und einfach strukturiert sind. So können auch breitere Leser- bzw. Zuhörerschichten angesprochen werden. Der Schwerpunkt liegt sehr oft in der Schlußevaluation oder in der Schlußmoral des Autors. Die Exempelerzählungen dienen bei Pauli wörtlich
"als Beleg“ für
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