抄録
Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1835–1838) gelten gemeinhin als Ausgangspunkt der Subjekttheorie in der Lyrik. Er unterschied zwar die Vorstellung des Subjekts, die der Adressant des lyrischen Textes evoziert, vom realen Autor, setzte aber beide in ein enges Verhältnis zueinander. Dieser Gedanke wurde von Wilhelm Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung (1906) aufgegriffen und übte einen großen Einfluss auf die deutsche Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert aus. Obwohl Friedrich Hölderlin theoretisch ähnliche Gedanken entwickelte, gelangte er in seiner dichterischen Praxis im Gegensatz zu Hegel dazu, den Adressanten vom Autor als empirischem Wesen möglichst streng zu trennen. Die Bedeutung dieser strikten Trennung für die Ideengeschichte der Lyrik ist bis heute nicht hinreichend beachtet worden.
Im ersten Teil dieses Beitrags wird vor allem Hegels Theorie des „lyrischen Subjekts“ zusammengefasst. Ziel ist es, diese mit der Dichtungstheorie Hölderlins zu vergleichen, um ihre Affinitäten herauszuarbeiten. Hegel betrachtete das lyrische Subjekt als Produkt der dichterischen Phantasie und trennte es vom empirischen „Ich“ des Dichters. Das Problem besteht jedoch darin, dass der Autor und das „Ich“ als seine Schöpfung in dieselbe Subjektivitätsstruktur eingebettet sind. Insofern muss die Unterscheidung zwischen ihnen unscharf bleiben. Aus heutiger lyrikologischer Sicht formuliert, setzt Hegel zwischen der von ihm unbewusst mit dem Adressanten identifizierten Vorstellung des Subjekts und dem Autor eine gewisse Kontinuität voraus. Ich werde darlegen, dass sich ein ähnlicher Gedanke in Hölderlins Text Allgemeiner Grund (1799) findet, in welchem er ausführt, dass jedes Gedicht „aus poëtischem Leben und Wirklichkeit“, d. h. „aus des Dichters eigener Welt und Seele“ geschaffen werden müsse. So drücke die Dichtung nach Hölderlin die vom Autor erlebte „Totalempfindung“ aus. Diese „[g]öttliche“ Empfindung solle aber in der Lyrik vom „physischen und intellectualen Zusammenhang“, der im biographischen Hintergrund des Textes liegt, losgelöst werden, um vom Leser „verstanden und belebt“ werden zu können. Daraus ist zu schließen, dass Hölderlin wie Hegel einerseits den Adressanten keineswegs mit dem Autor identifiziert, anderseits aber doch von deren enger Verbindung ausging. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Hölderlin schließlich zu einer anderen Auffassung als Hegel kam, indem er diese Verbindung in der Praxis immer stärker zurückdrängte.
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