Diese Abhandlung bietet die Analyse der Erlebnisinhalte der drei Geschichten in “Die Amsel”.
Die Struktur- und Formanalyse ist als nächstes vorgesehen.
Während der Roman die dauernde, eigentliche und bewußte Auseinandersetzung mit der Welt ist, in dem sich die ganze Persönlichkeit des Dichters und seine Eigenart des Denkens und Fühlens spiegelt, entsteht die Novelle aus einer innerlichen Erschütterung des Dichters, die ein ihn unerwartet plötzlich überfallendes Erlebnis verursacht.
Diese Aussage Musils gilt vollends für seinen Roman “Der Mann ohne Eigenschaften”. Man dürfte sie aber für “Die Amsel” nur beschränkt gelten lassen. Musil gestaltete sein Erlebnis von 1914 (Tagebücher, S. 168) künstlerisch zu der ersten Geschichte, indem er seine Lebensanschauung hinzufügte: Aufbruch aus der gewöhnlichen Wirklichkeit, um eine andere mögliche Daseinsform zu finden.
In der zweiten Geschichte steht als Kern ein Fliegerpfeil-Erlebnis an der schönen Südtiroler Front (Tagebücher, S. 175), das auch früher in “Ein Soldat erzählt” (1915 oder 1916) dargestellt wurde. Das war religiöser Natur; ein gleichzeitig bis an die Grenze erhöhtes Lebens-und Todesgefühl erfährt in einer mystischen Ekstase die Ankunft des Göttlichen. Dieses Erlebnis ist nach dem Musilschen Begriff ein typisch novellistisches Erlebnis zu nennen.
In der dritten Geschichte handelt es sich um die langjährigen Konflikte und die Versöhnung Musils mit seiner Mutter, obwohl keine Notizen oder Skizzen in seinen Tagebüchern anzuführen sind, die mit ihr in direktem Zusammenhang stehen.
Zwischen der Mutter und dem Sohn herrschte ein tiefer Zwist: Heftigkeit gegen Heftigkeit, “Eigensinn gegen Eigensinn”.
Andererseits stellte die Mutter für Musil als “weiße, volle und schöngebaute” Frau einen Idealtyp dar, der auch mit edlen und sympathischen Grundsätzen eine Anziehungskraft auf ihn ausübte.
Seine Mutter, die mit dem zarten, gutmütigen Ehemann unzufrieden war, hatte einen merkwürdigen “Hausfreund” (H. Reitner).
In dieser Konstellation war Musil Ödipus und Orest zugleich.
Der Tod der Mutter traf ihn unvorbereitet; er war für ihn nicht abgeschlossen. Innere Widerstände und Irritationen der Mutter gegenüber wurden in keiner Weise beigelegt. Erst später scheint sich die Versöhnung angebahnt zu haben.
Bei der dritten Geschichte versetzt sich Azwei absichtlich in seine Kindheit, um in ihrer Atmosphäre die Mutter herbeizurufen: Aus der Gedächtniswelt, in der die Mutter die Gestalt einer Amsel angenommen hatte und mit dem Kind in glücklichstem Verhältnis gestanden hatte.
Die drei Geschichten werden in derselben Formel der Darbietung vorgeführt: ein gewisser Umstand und seelische Prädisposition, Signal-Ereignis oder Anlaß (Amsel, Fliegerpfeil und Tod der Mutter), mystische Ekstase mit Wahrheitswissen und abschließend bewußte Entscheidung.
Zeitlebens war für Musil das mystisch-irrationale Erlebnis ein schwerwiegendes Thema. Nach der Vollendung der “Amsel” wollte er es in dem zweiten Buch des “Mann ohne Eigenschaften” in der vollen Breite und Tiefe behandeln.
Die Problematik dieses Themas liegt für ihn in drei Facetten: Wahrheits-, Sinn- und sprachliche Mitteilungsfrage: Nämlich, ob sie als menschliches Erlebnis oder Gefühl als wahr anzuerkennen sind, ob sie in irgendeinen sinnvollen Zusammenhang mit der ratioïden Welt zu bringen sind und ob sie nicht als ordnungsloses natürliches Geräusch, sondern als geistige Ordnung mitzuteilen sind; laut Azwei 1) “Ich will meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind, ”
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