Beim Vergleich von Goethes und Schillers Literaturauffassung hat man die Abhandlung
"Über naive und sentimentalische Dichtung“ als für Schillers eigene Dichtungsart programmatische Schrift betrachtet. Wenn er hier auch den Versuch macht, die eigene Position mit der Goethes zu vergleichen, so ist es doch sein Hauptanliegen, sie mit der Literatur des klassischen Altertums zu konfrontieren, wodurch er, wie Jauß ausführt, in gewisser Weise die
"Querelle des Anciens et des Modernes“ weiterführt. Dieser Streit brach immer dann aus, wenn sich die jeweils
"moderne“ Literatur mit dem Vorbild der
"Alten“ auseinanderzusetzen hatte. Es versteht sich zwar von selbst, daß Schiller die Erfahrung einer solchen Krise durch seine eigene dichterische Arbeit wohl vertraut gewesen ist, doch hatte er, u.a. als Redakteur literarischer Zeitschriften, auch Einblick in die allgemeine Krise der Zeit, die er dann als
"Zerrissenheit“ der modernen
"bürgerlichen“ Gesellschaft bestimmt hat. Vor allem in
"Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ stellt sich Schiller die Frage, wie sich die Wunde schließen lasse, welche die moderne
"Künstlichkeit“ den Menschen beigebracht habe, und zwar durch die immense Vermehrung und gleichzeitige Spezialisierung des Wissens sowie durch die immer komplizierter gewordenen staatlichen Verhältnisse, was auch eine gesellschaftliche und ökonomische
"Zerrissenheit“ und den Verlust der seelischen Harmonie des Einzelnen zur Folge habe. Was er dort im 6. Abschnitt analysiert, ist für ihn das unvermeidliche Ergebnis der Entwicklung des modernen Rationalismus. Demnach ist die moderne Gesellschaft nicht mehr dazu imstande, das Leben als organisches Ganzes zu erhalten.
Die Kritik an der Tatsache, daß der Mensch durch die Arbeitsteilung seine Ganzheit verliere, setzt sich auch in
"Über naive und sentimentalische Dichtung“ fort. In der Zerrissenheit des menschlichen Seins sieht er das
"Moderne“. Dieses Bewußtsein nennt er
"sentimentalisch“, und damit kennzeichnet er auch seine eigene dichterische Position.
Modernität als das Bewußtsein der Zerrissenheit, die aus der modernen
"bürgerlichen“ Gesellschaft hervorgegangen sei, anders gesagt: das Bewußtsein, die Einheit verloren zu haben, ist Schiller seit seiner Jugend nicht fremd gewesen. Schon in
"Philosophie der Physiologie“ nimmt er eine
"Mittelkraft“ an, um das Getrennte, Geist und Materie, zu versöhnen. Daraus ist zu ersehen, daß er sich dieses Problems schon auf der Karlsschule vage bewußt gewesen ist. Im Widerstreit des aufklärerischen Rationalismus der Zeit und des eigenen religiösen Gefühls suchte er damals nach einem harmonischen Weltbild. Gerade weil Schiller von Anfang an nicht in der Nachahmung der
"objektiven“ Griechen Zuflucht suchte, gelangte er notwendig zu einem
"subjektiven“, nämlich
"sentimentalischen“ Standpunkt.
Schillers Bestimmung des
"Modernen“ als zerrissenen Bewußtseins ist vermutlich mit dem Begriff des
"modernen“ Charakters verwandt, den Friedrich Schlegel in der Abhandlung
"Über das Studium der griechischen Poesie“ gebraucht. Schlegel möchte sich ihm nähern, doch Schiller wahrt Distanz, vielleicht, weil er in Schlegels Konzeption der
"progressiven Universalpoesie“ die Gefahr eines unendlichen und grenzenlosen Selbstzwecks sieht, einer Hypertrophie des Progresses, die sich vielleicht aus heutiger Sicht als unvermeidliche Folge des Rationalismus charakterisieren laßt.
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