"Der Process" von Franz Kafka wurde als unvollendetes Manuskript hinterlassen, das aus mehreren Kapiteln und Kapitelfragmenten besteht. Kafka gab diesen Kapiteln keine Kapitelnummern. Daher weiss niemand, wie die Kapitel von "Der Process", deren Reihenfolge Kafka nicht festgelegt hat, angeordnet werden sollen, und bis heute gehen die Meinungen daruber auseinander. Es scheint fast unmoglich, die Kapitel von "Der Process" folgerichtig anzuordnen, da der Text viele widerspruchliche Stellen enthalt. Nach dem Kommentar von Pasley wurden die Kapitel "Verhaftung" und "Ende", in welch letzterem die Hauptfigur Josef K. hingerichtet wird, zuerst verfasst, danach erst die anderen. Er vermutet, dass Kafka die beiden Kapitel schrieb, um dem Roman einen festen Rahmen zu verleihen. Obwohl dieser feste Rahmen bereits existierte, konnte Kafka die Kapitel jedoch nicht in der Reihenfolge von der "Verhaftung" bis zum "Ende" schreiben. Im Verlauf der Geschichte erscheinen andere Richtungen, die nicht auf das "Ende" hinauslaufen und von der ursprunglichen Richtung zum "Ende" abzweigen. Kafka schrieb sogar einige Kapitel, die andere Schlussmoglichkeiten zulassen. Daher ist es schwer oder gar unmoglich, alle vorhandenen Kapitel widerspruchslos anzuordnen. In der Reihenfolge, in der Kafka die Kapitel schrieb, ergeben sich auch andere Lesemoglichkeiten. So schrieb er nach der Hinrichtungsszene andere Kapitel, die eigentlich zur Hinrichtung von K. fuhren mussten. Dabei wird die tastende Fortbewegung Kafkas beim Schreiben deutlich. 1912 schrieb Kafka die Erzahlung "Das Urteil", fur die er keinen Entwurf angefertigt hatte, bevor er mit dem Schreiben begann, ohne Unterbrechung innerhalb einer Nacht. Mit der erfolgreichen Erzahlung "Das Urteil" erwarb er seinen eigenen Schreibstil und versuchte danach, seine Werke in diesem Stil zu verfassen. Max Brod griff eine Ausserung Kafkas uber dessen ideale Schaffensweise auf: "Man muss wie in einem dunklen Tunnel schreiben, ohne dass man weiss, wie sich die Figuren entwickeln werden." D. h., er wollte seine Werke schreiben, ohne einen festen Plan zu haben. Vermutlich versuchte Kafka, die Kapitel von "Der Process" in dem Stil zu schreiben, den er mit "Das Urteil" erworben hatte. Kafka schrieb die Kapitel des Romans ohne Plan, obwohl er einmal einen Rahmen fur den Roman hergestellt hatte. Im Verlauf dieses Prozesses erscheinen die Richtungen, die der Linie vom Kapitel "Verhaftung" zum Kapitel "Ende" widersprechen. Als wollte Kafka den Weg zur Hinrichtung im Kapitel "Ende" vermeiden, konnte er die Geschichte nicht auf dieser Linie halten. Dass Kafka zuerst die Kapitel "Verhaftung" und "Ende" schrieb, lasst vermuten, er habe versucht, die Ursache der Verhaftung und Hinrichtung von K., d. h. dessen Schuld, zu klaren, damit er nach Niederschrift des Kapitels "Ende" weiter an dem Text schreiben konne. Diesem Versuch war aber kein Erfolg beschieden. Es scheint, dass er es unbewusst vermied, dem Problem gegenuberzutreten, denn K. zogert immer, wenn er sich dem Kern der Ursache seiner Verhaftung nahert. Deshalb entsteht der Eindruck, als wolle K. (oder der Autor Kafka selbst) das Kapitel "Ende" eigentlich nicht erreichen. Im Verlauf seines Prozesses erlernt K. eine Methode, eine Eingabe abzufassen, die ihm die Hoffnung lasst, fur unschuldig befunden zu werden. Der Maler Titorelli sagt uber die "wirkliche Freisprechung", dass hier alle Prozessakten vollstandig verschwinden wurden. Es scheint, als wolle K. die Eingabe verfassen, um die Prozessakten zu vernichten, in denen die Ursache seiner Verhaftung steht. Mit der Vernichtung der Prozessakten, so scheint mir, versuchte Kafka, die schon geschriebenen Kapitel "Verhaftung" und "Ende" zu
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