Es verwundert nicht, daß Helga Königsdorf (geb. 1938), Schriftstellerin und bekannte Mathematikerin in der ehemaligen DDR, sich in den meisten ihrer zahlreichen Kurzgeschichten mit der
"Gesellschaft der Gelehrten auf dem naturwissenschaftlichen Gebiet“ befaßt. Wie verschieden die von ihr geschilderten Situationen dabei auch sind-ob es sich um den Widerstand eines anpassungsfähigen Wissenschaftlers handelt (
"Der unangemessene Aufstand des Zahlographen Karl-Egon Kuller“), um das Plagiat einer Idee und deren letztliches Authentisieren durch die Mächtigen (
"Eine kollektive Leistung“), um das Misogyne von Wissenschaftler-Gruppen (
"Der todsichere Tip“)-so geht es doch insgesamt immer nur um eines: um die geschlossene Gesellschaft des Wissens, die vorwiegend Männern vorbehalten und dementsprechend hierarchisiert ist. Jede Erfindung, jede Erkenntnis wird erst durch ihre Anerkennung in der Gesellschaft wirksam, kann sich ohne diese Sozialisierung nicht durchsetzen. Königsdorf hält diese Wissenschaftler(masse) durchaus für verdächtig. Kritisch verfolgt sie, wer diese Gesellschaft vorantreibt und wohin. Auch in den beiden Romanen
"Respektloser Umgang“ (1986) und
"Ungelegener Befund“ (1990) ist das ihr Hauptthema-in je verschiedener Weise, doch dadurch um so prononcierter.
In
"Respektloser Umgang“ treten das
"Ich“, Spiegelbild der Wissenschaftlerin Königsdorf selbst, und die 60 Jahre ältere Physikerin Lise Meitner auf, die als hochintelligente Jüdin gemeinsam mit Otto Hahn, dem späteren Nobelpreisträger, in Berlin an Forschungen zur Kernphysik arbeitete und wegen den Nazis Deutschland plötzlich verlassen und damit ihre idealen Arbeitsbedingungen aufgeben mußte.
In der Emigration vereinsamt, denkt die Meitner erst jetzt über die Bedeutung ihrer physikalischen Studien nach, denen sie sich schon so lange hingegeben hatte und von denen sie nun ausgeschlossen war. Kurz darauf explodiert in Hiroshima die erste Atombombe, deklariert als Maßnahme, den Krieg schnell zu beenden. Damit gelangt die in fanatischer Konkurrenz vorantreibende Kernphysik an einen Punkt, an dem ein Massaker mit
"dem Streben nach Frieden“ begründet wird.
Die Meitner taucht als Halluzination vor dem
"Ich“, ebenfalls einer jüdischen Wissenschaftlerin, auf, um ihr einen geheimen
"Auftrag“ zu erteilen: Sie soll die jetzige hemmungslose Entwicklung moderner Technologie zum Stehen bringen und ihre Zukunft nicht zur Vernichtung der Menschen, sondern zu deren Rettung leiten. Das
"Ich“ akzeptiert Meitners Auftrag und glaubt an die Notwendigkeit des Umschlags von Quantität in Qualität der Wissenschaft durch neue Erkenntnis.
Neben Königsdorf befassen sich zwei weitere repräsentative Schriftstel-lerinnen der DDR mit dem Thema Wissenschaftskritik: Christa Wolf in
"Störfall“ (1987) und Irmtraud Morgner in
"Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“ (1974) sowie in
"Amanda“ (1983). Beide äußern ihre Zweifel am bisher männlich dominierten Verständnis von der
"Wissenschaft des Fortschritts und der Rationalität“. Bei ihrer Suche nach Alternativen richteten sie die Aufmerksamkeit auf Alltagserfabrungen der Frauen bzw. auf die Welt von Mythos und Phantasie oder Traum, Magie, Alchemie u.a., welche einst als
"irrational“ verworfen wurden. Nach der amerikanischen Germanistin Patricia Herminghaus gehe die Wissenschaftskritik von Königsdorf, Wolf und Morgner in die gleiche Richtung wie die der angloamerikanischen Feministinnen. In
"A feeling for the organism“ (1983),
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